Es muss jetzt Stille sein! - den Sternenkindern


 

 Jetzt werden sie gleich alle kommen und mir herzliches Beileid wünschen oder mich wehleidig angucken, hatte sie damals gedacht, als sie wieder zur Arbeit gegangen war. Gott, ich will das nicht! Ich will nicht, dass mich irgendwer darauf anspricht. Ich will nicht, dass es erwähnt wird, ich will nicht, dass mich jemand von ihnen traurig anschaut, ich will nicht darüber reden. Und in ihrem Kopf, wo ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen genau das taten, wo sie ihr alle gut zuredeten, wo sie ihr alle zu nahe kamen, weil ihr alles zu nahe ging, in ihrem Kopf brüllte sie sie an "Seid jetzt still!"

Seid jetzt still. Es muss Stille sein. Und eigentlich war dieses tiefe Bedürfnis das Zeichen, dass sie noch nicht wieder bereit war, arbeiten zu gehen. Die Zeit der Stille war noch nicht vorbei, alles, selbst das Alltäglichste, war Lärm in ihren Ohren, selbst das Normalste war eine Störung. Die Welt und das menschliche Miteinander waren ihr zu laut, diese Wortwechsel waren ihr zu dumm, dieses Mitgefühl tat ihr zu weh.

Ihr Baby war in ihrem Leibe gestorben. Und als sie ihr das gesagt hatten, hatte eine Art Zeitlupe eingesetzt, war von Blicken und Worten in ihre Seele geglitten, und sie fühlte in ihrem Innern einen Raum entstehen, in den etwas von ihr hineinging, weg von dort, weg von der Situation, weg von dem Gesagten: "Ihr Kind ist leider gestorben. Wir müssen es jetzt holen." Aus Zuhören wurde ein Lippenlesen, in ihren Ohren war nur ihr Herzschlag zu vernehmen.

Matteo hätte er heißen sollen. Sie hatten ihn ihr gegeben und sie durfte ihn halten so lange sie wollte. Und da hatte die Zeit der Stille begonnen. Dieses Kind in ihren Armen schien genau das zu sagen: Es muss jetzt Stille sein! Hört jetzt auf zu sprechen, ihr Menschen, legt die Geschäfte und Erledigungen nieder, macht keine hektischen Bewegungen, sondern werdet bedächtig oder haltet inne mit eurem Tun, nehmt Haltung an, blickt hernieder wie Erwachsene auf Kinder herniederblicken, wenn sie ihnen aufmerksam zuhören, mit Entzücken und mit Rührung in ihren Herzen. Alle Welt soll Andacht halten und alles an euch soll andächtig werden, mit Ernst, nicht aufgesetzt oder gespielt wie in Gottesdiensten, in die einen die Familie oder der Anlass hineingezwungen hat, sondern mit Ernst. Werdet jetzt einmal ernst, werdet jetzt einmal still, einmal andächtig, wie dieses Kind in meinen Armen ... 

Und dann hatte sie "Ach Mensch" geflüstert und geweint. Nichtmal zur Welt bringen konnte ich dich, nichtmal diese Mühe, diese Anstrengung, diesen Schmerz mit dir gemeinsam durchmachen und die Freude und das Glück erleben, wenn es überstanden ist und wir einander haben. Nichtmal kennenlernen konnte ich dich, nichtmal in deine Augen sehen und in ihnen suchen, um herauszufinden, wer du bist, mein Matteo. Mein Herzschlag, meine Wärme, meine Berührungen, meine Küsse, meine Stimme, sie konnten dir keine Wegweiser sein in einer Welt, die dir zu laut, zu kalt und zu hell ist, und die dir sagen: Ich bin hier und ich liebe dich! Ich bin hier und ich liebe dich! Ach, seid doch alle still jetzt ... 

Ihre Kolleginnen und Kollegen hatten sie in Ruhe gelassen, ihre Chefin hatte vorher mit ihnen geredet und ihnen gesagt, sie wolle nicht darauf angesprochen werden. Und nach einigen Minuten hatte sie erleichtert festgestellt, dass sie niemand darauf ansprach, dass sie niemand mitleidig anstarrte, dass alles so ging wie immer. Nur gegen Ende des Dienstes, als sie noch an ihrem Schreibtisch saß, spürte sie eine Hand sich sanft auf ihre Schulter legen und bleiben, lang genug, um etwas auszudrücken, kurz genug, um nicht unangenehm zu werden. Dann wich sie und sie hörte Schritte, die sich entfernten. Sie drehte sich nicht um, sondern blieb, den Blick auf ihrem Schreibtisch, und alles wurde wieder still.

Jetzt stand sie mit ihrem Mann auf dem Friedhof vor einem kleinen Grab und ihre Augen glitten die Linien seines Namens entlang: MATTEO ... Ich bin hier und ich liebe dich! 

Mit einem stillen Lächeln sah sie herab und legte die Hand auf ihren Bauch.


 

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