Morgenröte (Ostersonntag)


Eine Frau kommt zum Grab Jesu. Es ist Maria - nicht seine Mutter, sondern Maria von Magdala, eine Jüngerin Jesu, die ihn sehr geliebt hat. 

Sie kommt frühmorgens, am ersten Tag der Woche, dem Sonntag, um das Grab zu sehen, vielleicht, um den Leichnam zu behandeln, wie es damals Sitte war, vielleicht einfach nur, um allein zu sein und zu trauern und nachzudenken. Sie sieht das Grab in der Dämmerung geöffnet und erschrickt, befürchtet, man habe den Leichnam gestohlen, die Totenruhe geschändet ... nicht mal hier habe er endlich Ruhe von alle dem, was ihn umgebracht hat, von diesen ganzen Intrigen und Fehden, dieser Verachtung und diesem Hass. 

Sie kennt sie, diese Verachtung. Vor wenigen Jahren war sie eine Verachtete gewesen, besessen von Geistern, irre, wahnsinnig, krank im Geiste, aus der Gesellschaft und dem Leben ausgestoßen, untragbar für das Miteinander unter Menschen, unzugänglich für Worte und Berührungen, Blicke nicht erwidernd, auch Zuneigung nicht annehmend ... Aus irgendwelchen Gründen - wer kennt die schon - war schlechter Geist als Verhängnis über ihr Dasein gekommen und hatte sie der Menschlichkeit entrückt, hatte sie ver-rückt. In seltenen Momenten nur, in lichten Augenblicken, hatte ihre Seele aus diesem Gefängnis geblickt, hatte sich als verflucht erkannt, hatte Gründe gesucht - Schicksal, Fluch Gottes, der Zusammenhang von Tun und Ergehen, die Sünden der Ahnen, die Verfehlung am heiligen Gesetz, was auch immer -, hatte voller Sehnsucht und Verzweiflung um sich geschaut, ob da Irgendjemand wäre, der sie retten könnte, sie erlösen von dieser Qual, von diesem verdammten Dasein. 

Dann hatte sich alles wieder in den Wahnsinn zurückgezogen, dann hatte sie alles wieder umfangen und die Sehnsucht erwürgt, und das höhnische Lachen war zurückgekehrt, der fiebrige Blick, die irre Fratze, die zuckenden, suchenden Augen, die überall nur das sahen, was sie hasste, Menschen, Häuser, Kinder, Tiere, Pflanzen, Bäume, Gewässer, die Farben des Himmels, den Staub der Erde ... Aber nicht sie hatte das gehasst, sondern die schlechten Geister. Ist es doch keine natürliche Veranlagung des Menschenherzens, alles so zu hassen, alles so zu verabscheuen, so vernichtet sehen zu wollen ... Das bin doch nicht ich!, hatte sie in den kurzen lichten Momenten gedacht, hatte es in ihr geschrien: Hilf mir! Das bin doch nicht ich! Das hier, das ist doch nicht mein Geist, nicht meine Seele, nicht mein Wesen ...



Dann war Er gekommen, hatte sie angesehen und sein Blick hatte ihrer Seele geantwortet: Nein, Maria, das bist nicht du! Das ist fremder Geist, das ist Fremdheit, ist Entfremdung von dem, was du bist! Das gehört nicht zu dir, dieser Wahn, dieser Hass, dieser Irrsinn, muss nicht therapiert, nicht gelindert, nicht betäubt werden, sondern muss abgeschnitten, muss rausgerissen werden wie das Unkraut aus dem Boden, muss ausgetrieben werden ... Dann hatte ihr Blick sich abzuwenden versucht, hatte alles in ihr sie wieder zurückzuholen, zu versenken versucht, und hatte es nicht vermocht. Denn er, alles an ihm, hatte zu ihr gesprochen: Sieh mich an, Maria! - Und sie hatte ihn angesehen und da war alle Finsternis der Erkenntnis gewichen, alle Entfremdung dem Leben. 

Da ist er, dachte sie, da ist mir Jemand gegenüber. Ich hatte geglaubt, in mir selbst alleine zu sein mit diesen Geistern, hatte geglaubt, dass mein Dasein mein Verhängnis sei, dieses Böse, dieses Verfluchte, Destruktive, Irrationale, dieses Abgrundtiefe, Hasserfüllte, Lebensfeindliche. Alle Sehnsucht ist doch hoffnungslos, ist vergebens, hatte ich geglaubt, das Böse mit seinen Teufeln hatte mich umfangen und da war keine Erlösung ... Du aber hast mich gebildet im Leibe meiner Mutter, hast mir, deinem Bildnis, Atem eingehaucht, sodass ich lebe; einen Namen hast du mir gegeben. Du hast mich, die ich an der Entfremdung erkrankt war, wieder bei meinem Namen genannt, hast mir den Atem des Lebens eingehaucht, hast mich wieder gebildet im Staub dieser Erde; diese zerkratzte Haut, dieses ausgeschwitzte Salz, dieser Dreck in den Falten, dieses Fieber in den Augen, dieses blanke Fleisch, diese ganze Zerstörung auf meinen Knochen ... du hast all das ausgezogen wie ein altes zerrissenes Kleid, und hast mich bekleidet mit Leben ... Jetzt ist meine Seele kein Grab mehr, sondern Heimat, jetzt ist mein Leib kein Gefängnis mehr, sondern Gefährte; jetzt ist mein Geist kein Wahn mehr, keine Verwirrung, sondern klare, unbestechliche Erkenntnis. Du bist meine Erkenntnis, du bist mein Gefährte, du bist meine Heimat!

So hatte er sie gerettet, und sie war mit ihm gegangen ihr weiteres Leben. Und dann hatten sie ihn umgebracht. Und nun ist die Grabesruhe verletzt und es will kein Ende nehmen, die Gemeinde um Jesus ist bereits angespannt, droht zu zerreißen, keiner weiß wohin und was werden soll. 

Maria erzählt es den Jüngern, sie ist die erste, die die Botschaft bringt: Das Grab ist leer! Die Männer gehen selbst nachsehen, begegnen an dem Ort, wo der Tod herrschen sollte, Engeln Gottes, die ihnen sagen, dass ihr Herr nicht hier sei, sondern auferstanden sei und lebe. Ihnen ist das unverständlich und sie gehen wieder heim. Wie sollte es das auch nicht sein? Es war ihnen damals so unverständlich wie uns heute, wenn wir davon reden, dass der Mensch aus dem Tode auferstehen und leben werde. Die Natur, alle Erfahrung, alle Vernunft, alle Gesetze widersprechen dem. Das Evangelium wird zum Widerspruch gegen den Tod. 



Maria bleibt allein zurück in dem Garten, wo das Grab liegt. Auch sie schaut hinein, sieht die Engel am Kopfe und am Fuß der Grabstelle stehen. "Er ist nicht hier", sagen sie ihr, und sie verwirrt das alles wie zuvor die Männer. Am Eingang des Grabes geht sie auf die Knie und weint über all das. Ihr ist das zu hoch, zu unglaublich, zu seltsam und unfassbar; eben erst haben sie ihn qualvoll sterben sehen, eben erst mussten sie ihn ins Grab legen, seinen Leichnam einreiben mit Salben, diese zerkratzte Haut, dieses ausgeschwitzte Salz, dieser Dreck und dieses Blut in den Falten und Wundmalen, dieses blanke Fleisch, diese ganze Zerstörung auf seinen Knochen ... Ich habe doch grad erst Abschied genommen, dich gerade erst entlassen, weil diese Welt nunmal böse ist und dich nicht gewollt hat, und jetzt haben sie - Diebe oder Engel, Menschen oder Götterwesen, wer oder was auch immer - dich mir weggenommen! Gottes Wille hat dich mir weggenommen, alles hat sich verschworen und dich mir weggenommen!

Während sie weint, tritt ein Mann zu ihr und spricht zu ihr: "Was weinst du, Frau?" Maria blickt auf, meint, es sei der Gärtner und erkennt ihn nicht. "Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingebracht haben!", erwidert sie ihm. Da nennt er sie beim Namen und spricht: "Maria!" Und sie sieht ihn an, wie damals, und das Nichterkennen weicht der Erkenntnis, der Trauerschleier wird vom Gesicht genommen, alles weicht der Einsicht, dass ihr geliebter Herr ihr nicht weggenommen wurde, dass er ihr nicht verlorengegangen ist. 

Wie oft mag uns das so gehen? Da hat das Böse, das Schicksal, die Umstände, da hat man uns selbst das Gute, das wir bei uns hatten, woran wir uns zuversichtlich gehalten haben, das Geliebte, wofür wir auch durch Leid zu gehen bereit waren, da hat man es uns weggenommen, meinen wir; da ist es uns verlorengegangen, meinen wir. Und wenn wir ihn nicht sprechen hören, wenn wir seine Stimme nicht vernehmen, wenn er uns nicht beim Namen ruft, dann erkennen wir unseren Herrn nicht. 

Und nicht nur dem Einzelnen. Wie oft mag es der Gemeinde, der Kirche, so gegangen sein und noch so gehen, nach fast zweitausend Jahren? Wie oft schien der Meister und Lehrer dieser Kirche fern, wie oft schien das Evangelium preisgegeben an Macht, Gewalt und Prestige, an Eitelkeiten und Politik, an unberufene Priester und Irrlehrer? Wie müde und überdrüssig war diese Kirche, die in der Bibel die "Braut Christi" genannt wird, manchmal geworden, wie ein Paar, das sich auseinandergelebt und füreinander das Feuer verloren hat? Wie oft saß sie am Grab und weinte, und erkannte nicht, dass er lebt, dass in diesem Grab niemand ist? Wie oft saßen wir in Dunkelheit und Dämmerung da in unserem Kummer, und haben nicht bemerkt, dass die Morgenröte aufbrach ... bis wir den Blick erhoben. 

 

Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!



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