Das Gute, Wahre und Schöne


Gibt es das Gute, Wahre und Schöne, das unhintergehbar und unverhandelbar bleibt, das nicht - wie so vieles - zur Debatte steht und den Ansichten und Interpretationen der Menschen unterworfen ist? Diese Frage, die das Menschenherz seit Urzeiten bewegt, fasziniert und sorgt, drängt sich umso mehr auf je wirrer und gefährdeter die Welt und das menschliche Miteinander sich zeigen. Sie betritt den Raum wie ein ungebetener Gast, wie ein Obdachloser, der sich bei einer feinen Gesellschaft in einem schicken Restaurant an den Tisch setzt und mit seiner Anwesenheit den Leuten sagt: "Du magst auf den ersten Blick denken, was auch immer du willst, aber letztendlich, schau, sitzt hier ein Mensch. Damit ist eigentlich erstmal alles gesagt."

Zwar neigt man heute in unseren Breiten dazu, die letzte, unhintergehbare Wahrheit als eine Illusion abzutun, als etwas, das es nicht gibt oder das sich lediglich auf naturwissenschaftliche Daten bezieht, doch tief in seinem Herzen ahnt der Mensch sie und sehnt sich nach ihr, und all die unruhige Suche vieler Zeitgenossen rührt daher. Wie der Kirchenvater Agustinus in seinen Bekenntnissen schrieb: "Unruhig ist unser Herz, bis es ruht, o Gott, in Dir."

Das Gute, Wahre und Schöne bezieht sich auf Gott und auf den Menschen und aufeinander: es ist die uralte philosophische Einsicht, dass das Gute auch das Wahre und Schöne, das Wahre auch das Schöne und Gute, das Schöne auch das Gute und Wahre sei, und all das gründet in Gott und ist dem Menschen gegeben als dessen Ebenbild, um es zu erkennen und daraus zu leben. Derlei Erkenntnis wird heute entweder infrage gestellt oder als belanglos abgetan und daran krankt das ganze menschliche Befinden und Miteinander. Beide Betrachtungsweisen sehen nur die Welt und nicht das Ewige, sehen nur die Beziehung innerhalb der Welt, die - wie alles in ihr - an sich selbst scheitern muss, weil alles vergänglich ist, und sehen nicht die Beziehung zum Ewigen, in der keine Vergänglichkeit Sorge zu machen braucht. 

So stellt man einerseits infrage: Wer sagt denn, dass das Wahre gut sei? - Wahrheit, das sei die "brutale Wahrheit", die schonungslosen Fakten, der gnadenlose Tatbestand. Die Wahrheit (Alétheia) der griechischen Mythologie war die nackte Göttin, die unverhüllte Frau, die die Menschen lehren sollte, dass angesichts der Wahrheit nichts mehr geschönt, alles bloßgestellt werde. Wahrheit hat in den Köpfen vieler Menschen keine eigene Schönheit und Güte, sondern ist etwas Bedrohliches. Das Bild, das die Natur uns liefert, wenn sie alles ist, was wir zur Erkenntnis heranziehen, zeigt uns keine gute und schöne, sondern eine grausame Wahrheit: ein ständiger Kampf ums Dasein, Macht und Unterwerfung, desinteressierte Gezeiten und Witterungen, das leidige Geborenwerden und Sterben aller Wesen usf. Da diese Welt nunmal so ist, richtet man sich in ihr möglichst günstig ein und lenkt sich ab, doch erzähle man bitte nichts von "Wahrheit"; sie ist, wenn es sie überhaupt geben sollte, nur grausam. 

Andererseits (oder vielleicht auch als Konsequenz) hält man die Frage und Suche nach dem Guten, Wahren und Schönen für belanglos. Derlei Gedanken seien unwichtig für das Leben, man bedürfe nicht des Ewigen, worin man gründet und woraus man lebt, sondern jeder gründet immer nur in sich selbst und das Miteinander muss immer wieder neu verhandelt werden. Alles sei relativ, sei Ansichtssache und eine Frage der Definition. Zwar funktioniert so keine einzige Gesellschaft, die sich bis heute entwickelt, und kein Staat, der sich bis heute aufgebaut hat, aber diese Idee greift trotzdem zunehmend um sich und wird als besonders egalitär, als besonders gleichberechtigt aufgefasst. Was dadurch geschieht ist, dass nur noch das Ich zum Maßstab wird. Wenn alles relativ ist, wenn alles nur vom persönlichen Befinden hergeleitet wird, dann hält der Mensch sich an das einzige, was ihm sicher scheint, und das ist seine eigene Empfindungs- und Gedankenwelt, seine eigene Person. Doch unsere Empfindungen und Gedanken sind wechselhaft und launisch und man findet darin keine Sicherheit, wenn sie sich nicht in etwas gründen und aus etwas leben, das höher ist als sie. Der Mensch kann nicht nur aus der Beziehung zu sich selbst leben, er ist für die Beziehung zu einem Gegenüber geschaffen.

Diese Verunsicherung seiner selbst, die Folge dieses ungehemmten Selbstbezugs, wird immer sichtbarer und aufdringlicher. Er weiß nicht mehr, wer oder was er ist, er muss sich ständig neu entwerfen, kreieren, verhandeln und bestimmen, kann sein naturgegebenes So-sein nicht akzeptieren und findet keine Ruhe in sich selbst. Wenn das Ich das Ein und Alles ist, dann muss es ständig neu erfunden werden, weil es ansonsten unfassbar langweilig ist. So geschieht es, dass der, der am stärksten auf sich selbst bezogen ist, sich am ehesten verliert und sich selbst unklar wird, und dass der, der sich selbst nur noch aus der Natur heraus versteht, dieses sein natürliches Geschaffensein nicht ertragen will. So geschieht es, dass heute so viele davon sprechen, sich selbst zu finden und ganz selbst zu sein, sie aber nichts finden und nichts sind, dass so viele unentwegt suchen aber nirgends ankommen. So geschieht es, dass so viele nur sich selbst wollen, sich aber niemals genügen und immer unbefriedigt bleiben (das natürliche Schicksal des Narzissmus). Und so bleibt dieser alte Satz Augustins so gültig: "Unruhig ist unser Herz, bis es ruht, o Gott, in Dir."

Das Gute, Wahre und Schöne ist kein philosophisches Modell, keine Idee der Welt, die mit unserem Dasein nichts zutun hätte, sondern es lebt aus der Beziehung des Menschen zu Gott, der Quelle des Guten, Wahren und Schönen. Die Natur mag, genauso wie unser Menschenherz, noch so gefallen sein, noch so viel Abgründiges, Grausames zuweilen und Finsteres in sich bergen, sie mag noch so verwundet und makelhaft sein, sie ist dennoch derart schön, dass man die Liebe nachempfinden kann, die ihr Schöpfer gehabt hat und bis heute fühlt. "Wie die Venus von Milo", las ich mal von einer Naturfotografin, "unverkennbar ein Meisterwerk, aber verwundet: die Arme fehlen ihr."

So vermag die Beziehung zu Gott den Blick auf die Welt und sich selbst zu verwandeln: betrachte ich die Welt, die Natur, das Leben und mich selbst als Feind und Ungemach, dann wird mir alles grausam, alles fordert meinen Kampf und meinen Widerstand, alles will ich verändern, übermalen, umoperieren, designen, ständig muss ich mich ablenken und beschäftigen, rastlos suche ich Attraktion, mit nichts kann ich Frieden machen, keinen Makel lange ertragen, nirgends und bei niemandem lange bleiben ... Betrachte ich all das als geliebt - gefallen und verwundet zwar - aber geliebt, dann weckt es in mir nicht Zorn und Widerstand, sondern Mitgefühl, Demut und Geduld. Bei Gott, dem Schöpfer aller Dinge, zu lernen, bedeutet, die Welt und auch sich selbst durch seine Augen zu sehen. Es bedeutet zu erkennen, dass es zwar so zugeht in dieser verletzten Welt und dass auch mich selbst äußerlich und innerlich Makel umfängt, dies aber weder Ursprung noch letztes Urteil ist. Wir sind nicht zum Tode geschaffen, sondern zum Leben, nicht aus dem "Fleisch geboren", wie es in der Bibel heißt, "sondern aus Gott" (Joh 1,13), nicht Spezies irgendeines blinden Weltenlaufs, sondern Söhne und Töchter Gottes. Und diese Welt ist nicht bloß ein Kampfplatz und ein Jammertal, das einem entweder verhasst sein muss oder in dem man sich möglichst zerstreuen muss, sondern sie ist die uns anvertraute Heimat. 

Kein Feind, kein Ungemach, kein Tod vermag diese göttliche Sicht auf die Dinge zu nehmen, wenn man sie sich einmal wirklich zu Herzen genommen hat und durch sie die Welt erkennt. Keine schonungslosen Daten und "Fakten", keine materialistische Weltsicht trübt den Blick mit den Augen des Geistes, der in das Verborgene sieht und die ursprüngliche Schönheit erblickt, kein Narzissmus darf hier leben und den Menschen in den Selbsthass treiben, wo man sich von dem ewigen Gott angenommen weiß. Keine Frage nach dem Guten, Wahren und Schönen bleibt hier ein ungebetener Gast, sondern führt zur Einsicht: "Ich mag auf den ersten Blick gedacht haben, was auch immer ich wollte, aber letztendlich, schau, ging es die ganze Zeit um dich."




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