Die zwei Gesichter des Leonardo


Von dem berühmten Maler Leonardo da Vinci wird eine Geschichte erzählt - vielleicht hat er sie auch selbst in Umlauf gebracht, denn Leonardo erzählte gerne solche tiefsinnigen Anekdoten wie die folgende: 

Als Leonardo an seinem berühmten Werk Das letzte Abendmahl arbeitete, brauchte er sehr lange (selbst für seine Verhältnisse, denn er ließ sich gerne Zeit mit seinen Bildern). Seine Auftraggeber, die Mönche des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand, wurden immer ungeduldiger, weil der eigensinnige Künstler einfach nicht fertig wurde. Immer wieder vertröstete er, sagte, er habe es noch nicht richtig "gefunden" ... 

Was war sein Problem an dem Bild? Was konnte er nicht "finden"? An Fertigkeit und Maltechnik lag es nicht, Leonardo war ein Profi. Die Wand im Klostergebäude war zwar anspruchsvoll (Leonardo musste eine Technik entwickeln, damit die Farben auf dem Kalk hielten), aber trotzdem: daran lag es nicht. 

Was ihn so aufhielt war das Gesicht Jesu. Er hatte alles bereits fertig konzipiert und komponiert: die anderen Personen, die Farben, die "Flucht", also die Tiefe des Bildes, die auf die Mitte, die Figur Jesu, hinlief, sogar die Gestalt Jesu hatte er bereits skizziert, seine Haltung, die Neigung des Kopfes ... aber sein Gesicht ... das fand er einfach nicht.

Wie sollte er aussehen? Wie durfte er aussehen? Wie konnte er aussehen? Leonardo tat nun etwas, das er öfters tat für seine Bilder: er zog durch die Stadt und schaute sich die Menschen an; Menschen, mit all ihrer Schönheit und all ihrer Hässlichkeit. Er beobachtete sie stundenlang ganz genau, um Inspiration zu sammeln, machte schnelle Skizzen oder Anmerkungen in seinen berühmten Codices, seinen Notizbüchern, deren Blätter heute mehrere Millionen US-Dollar wert sind. Und manchmal sprach er Menschen an und lud sie ein, für ihn Modell zu stehen.

So auch hier: er fand einen jungen Mann, der seiner Ansicht nach für Jesu Gesicht Modell sitzen konnte: das gütige, wissende und zugleich einsame Gesicht, es passte - der junge Herr hatte es ... So brachte Leonardo eines seiner berühmtesten Gemälde doch noch fertig, nach langem Ringen und nach langer Suche nach dem richtigen Gesicht.



Viele Jahre später arbeitete der große Maler und Erfinder an einem anderen Werk: diesmal war es Judas, der ihn hemmte, mit den gleichen Fragen: Wie sollte und konnte er aussehen?

Es sollte ein verbitterter Judas sein, ein Judas nach dem Verrat an Jesus, ein Mensch, der sich denkt: Gott, wo ist es nur hingekommen mit mir? Wie und wann bin ich so dermaßen abgekommen vom guten Weg? - Ein Mensch, der nicht mehr die Kraft findet, umzukehren, und der nicht sehen kann, wie ihm nochmal vergeben werden könnte.

Und da Leonardo dieses Gesicht Judas´ in seiner eigenen Fantasie nicht finden konnte, ging er wieder auf die Straßen und suchte unter den Menschen. Und er fand seinen "Judas": ein mittelalter Mann, hager und ausgezehrt und gleichzeitig aufgequollen im Gesicht, vielleicht vom Alkohol, mit traurigen, trostlosen Augen.

Leonardo warb ihn als Modell an für Kost und Logis (viel Geld hatte er nie), und der Mann willigte ein. Und wie sich im Laufe der Zusammenarbeit herausstellte, waren die beiden sich schon einmal begegnet: Leonardo hatte ihn schonmal als Modell verwendet - damals war es Jesus gewesen, hier nun ein Modell für Judas ...

Und wie diese Erzählung einen harten Bruch macht, an ein und derselben Person, so mache auch ich nun einen harten Bruch und komme in die Gegenwart:

In einer Welt, die auseinanderklafft, in der wieder sehr stark zwischen Schwarz und Weiß, Freund und Feind, guter Seite und schlechter aufgeteilt wird, in der alte ideologische Gedanken wiederkehren ... In solch einer Welt wird diese Erzählung um Leonardo und seine "Modelle" ein nachdenkenswertes Gleichnis.

Und auch in unserem eigenen Herzen, in unserer eigenen Seele, wo wir gerne gut und richtig sein wollen und das Schlechte weit von uns weisen wollen. Es ist ganz normal, wir alle möchten gut und richtig sein und wollen uns selbst so sehen. Und doch tragen wir beides in uns, wir sind ambivalente Wesen.

Das macht uns oft so kompliziert. Das macht uns manchmal so mitleidserregend und bitter wie bei diesem Modell Leonardos, das auf schlechte Wege gekommen war, oder wie bei einem Judas, der sein Herz an falsche Dinge hängte und das verbittert einsehen musste. Das macht uns manchmal so schlimm, die wir den bösen Feind in anderen suchen, statt ihn offen und ehrlich in uns selbst einzugestehen. 

Zugleich aber macht es uns frei, gut und schlecht zu erkennen. Wir sind keine programmierten heiligen Roboter. Es macht uns so wunderschön, wegen der Tiefe, die dahinter liegt - keine oberflächliche, glatte und puppenhafte Schönheit, sondern die Schönheit echten Lebens, faszinierend und abgründig. Es macht Liebe, Sanftmut und Herzensgüte so kostbar, es macht Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit so wertvoll, und: es macht Gottes Gnade und Vergebung so bedeutend und barmherzig.


Barmherziger Gott, 

Du hast damals diese Deine Welt angeschaut und uns Menschen, die Du geschaffen hast, und es heißt: "Und siehe, es war sehr gut!" - So erzählt es uns die Schöpfungsgeschichte. 

Obgleich Du wusstest, wie schwierig es mit Deinen Menschenkindern werden würde, wie viel Widerspruch, wie tiefe Abgründe in ihnen liegen, wie viel "komplizierte Freiheit" ... 

Trotzdem hast Du es gewagt - mit dieser Welt und mit uns Menschen. Obgleich die Möglichkeit da ist, Dich vielleicht nicht zu finden oder sich von Dir abzuwenden oder sich zu verirren im Leben, trotzdem hast Du es gewagt mit uns und rufst uns und suchst Herzen, die sich von Dir verändern lassen, sodass wir Deinem Sohn nachfolgen und ähnlich werden, und die Menschen in uns Ihn erblicken. Amen



 

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