Der himmlische Rat, oder: Vom Gebet

Wir hielten mit den Jugendlichen im kirchlichen Unterricht einen Engelrat im Himmel ab: auf der einen Seite saßen die niederen Engel, die als Boten die Gebete vorbrachten, die wir in den Unterrichtsstunden zuvor geschrieben hatten. Auf der anderen Seite saßen die höheren Engel, die darüber urteilen sollten, welche Gebete es wert seien, vor den Schöpfer gebracht zu werden. Ein Teamer und ich waren als Erzengel das "Zünglein an der Waage", stellten Fragen, führten zu Gedanken hin oder gaben unser Votum ab. Es entspann sich eine sehr interessante und angeregte Diskussion über die einzelnen Gebete, über die Anliegen und Wünsche, Bitten und Klagen, Dankesworte und Sorgen der Betenden. Sie hatten sowohl für sich wie auch für andere gebetet, hatten von ganz kleinen Wünschen und Freuden bis zu großen Sorgen und Bedrängnissen alles vorzubringen, Aufrichtiges und Ernstes, Halbherziges und eher Unernstes ... 

Was würden die Richterengel sagen? Was ist wert, dass es Gott vorgelegt und von ihm gehört wird? Wie betet man "richtig"? Gibt es überhaupt ein Richtig? Darf man alles sagen oder gibt es eine "Knigge"? Gibt es vielleicht sogar Verwerfliches, kann man auch Böses beten und aussprechen über andere? Darf man gegen seine Feinde beten? Gibt es etwas, von dem Gott sagen würde: Das hör ich mir nicht an! ? Die Tendenz war - trotz der angeregten Gespräche - bei allen sehr bald deutlich: Alles wurde durchgelassen und der Stapel vor uns beiden Erzengeln häufte sich. Alles sollte weitergeleitet, alles sollte gehört werden, alles sollte vor Gott gebracht werden, alles wollten wir aufnehmen! 

Wir nahmen uns Zeit für die Gebete. Nun, darf man gegen die Feinde beten? Also David in den Psalmen tut es, sogar sehr drastisch manchmal. Israel war nicht das große monotheistische Reich, das andere unterjochte, wie sich das manche vielleicht analog zur mittelalterlichen Kirche vorstellen, sondern Israel war ein winziges Land, umringt von großen Konkurrenten oder gar Feinden, bedrängt und eigentlich zu schwach gegen diese Übermächte. Darf man sagen: "Herr, nimm diese Feinde von mir!" ? Darf man Jene verwünschen, die einem, seiner Familie und seinem Volk nach dem Dasein trachten? Sind nicht ganz aktuell, in diesem Moment, Menschen von Krieg und Zerstörung bedroht, von diesem Monstrum, das allen Lebensrecht und Lebenswert abspricht? Darf das betende Herz sich dagegen auflehnen und zuschlagen mit allem, was ihm noch geblieben ist, mit dem Wort? Wir entschieden Ja. Zumal der Mensch etwas macht mit solch einem Gebet: er gibt all diesen Zorn, all diesen Missmut, all dieses Unglück Gott. Das geschieht übrigens immer und ist der große Unterschied zu reinem Nachdenken über etwas: wenn man mit Gott spricht, rückt man die Sache von sich weg auf einen gesunden Abstand, den das einsame Nachdenken erstmal nicht hat. So bin ich zunächst ganz allein mit mir und alldem, und es fällt kein Kommentar (wie beispielsweise in Gesprächen mit Freunden), denn es ist tiefe Stille um mich her; zugleich aber wird alles von Ewigkeit umfangen und der Blick vermag erhabener zu werden. Das ist es, was wir Seine Gegenwart nennen, die wir so oft einladen in unsere Andachten, Gottesdienste oder Sitzungen.

Doch wie ist es eigentlich grundsätzlich, darf man alles sagen im Gebet? Ja, entschieden wir, man darf grundsätzlich alles sagen. Ob alles in jedem Rahmen angebracht ist, ist sicher eine andere Frage, aber der betende Mensch - allein mit sich und Gott - darf alles sagen. Auch gibt es keine Verpflichtung, dass ein Gebet einen guten Abschluss haben muss. Wenn gerade alles um dich her dunkel ist, dann sage es: "Um mich her ist alles dunkel!" Wenn du gerade mit ihm nicht reden kannst, dann sage es: "Ich kann gerade nicht mit dir reden!", und schon hast du mit ihm geredet. Wenn dich heute alle Hoffnung verlassen hat, dann sage es: "Ich bin so hoffnungslos!" Er wird damit wirklich zu deinem Gesprächspartner. Gebet ist kein Kult mit den richtigen Formeln, die die Götterwelt milde stimmen, wie in alten Zeiten, sondern es ist das Gespräch mit einem Freund, mit einem Gefährten. Und wenn wir beten, machen wir etwas ganz Bestimmtes: wir sagen damit, dass Er wahr ist, dass Er lebt, dass Er hört, sieht, fühlt, Ansinnen hat, Abneigung, Rührung, Liebe, alldas. Mit einer Lebensenergie oder einem Prinzip brauche ich nicht zu sprechen, sie interessieren sich nicht für uns, mit dem Universum brauche ich nicht reden, dieses Universum schert sich überhaupt nicht um uns. Reden kann ich nur mit einem hörenden und verstehenden Wesen, mit einem Gegenüber. Nur ihm kann ich begegnen und werde ganz ich selbst. Dem "großen Ganzen" kann man nicht begegnen und man wird dort zu Nichts; dieser fatale Irrtum der heute so beliebten Philosophien. 

Wie ist es mit ganz konkreten Wünschen? Jemand betete, er wolle seinen Traumberuf erreichen und viel Geld verdienen, einen teuren Wagen fahren und ein großes Haus haben. Darf das durchgereicht werden zu Gott? Wissen wir immer, aus welchen Verhältnissen jemand kommt? Da musste jemand ständig entbehren, die Familie ist vielleicht ein Sozialfall oder das Zuhause ist eine Katastrophe, und er oder sie muss sich ganz klare Ziele setzen, auf die man zustrebt, um es eines Tages besser zu haben ... Wer weiß das schon? Sollte Gott es hören? Oder ist das seiner nicht würdig? Doch, sagten wir wieder, es soll zu Gott gebracht werden. Was ist mit ganz beiläufigen Dingen oder gar mit eher unernsten Worten? Ja, auch sie. Wir wissen nämlich gar nicht, was beiläufig oder unwichtig oder unernst ist, und was einmal vielleicht ganz entscheidend und ernst werden wird; wir überschauen das gar nicht. Wir können diese ganzen Pfade gar nicht überblicken und ermessen, wir wissen nicht, was das Heutige in fünf Jahren bedeutet, in zehn, in zwanzig, fünfzig, hundert, fünfhundert, tausend, abertausend Jahren ... Das können wir allermeist gar nicht begreifen. Man sollte es Dem geben, der damit umzugehen versteht, der alldas zu überschauen fähig ist. 

Was aber, wenn Jemand wirklich Böses betet und wünscht? Geht das überhaupt? Nicht allgemein (das Gebet gegen feindliche Bedrängnis beispielsweise), sondern ganz gezielt über einen anderen Menschen Böses und Übles auszuschütten, kann und darf das durchgehen? Ist er dafür nicht sogar die falsche Adresse? "Aber vielleicht kann Gott, wenn er es hört, diesem Menschen begegnen und ihn verändern", sagte eine. Wir stimmten zu, wir sahen es alle genauso. Wie schlimm wäre es, wenn das Böse und der Fluch ganz sich selbst überlassen blieben? Das schlechte Ansinnen schadet als erstes dem Menschen selbst. Wenn er tätig wird oder andere einbezieht, dann schadet es natürlich auch anderen, aber erstmal schadet es ihm selbst. Wie bitter und dunkel muss es in Menschen aussehen, die andere attackieren, mobben, kränken und verletzen wollen, die so voller Übel sind und anderen das Schlechte geben wollen? Die Sünde trägt ihre Strafe in sich selbst, sagte Jesus einmal. Es möge also auch das nicht ungehört bleiben, es möge sich ein Menschenherz bessern können und heilen, wollten wir festhalten. Derart Gebete waren bei unseren nicht dabei, aber auch solche wollten wir bei Gott wissen. 

Es gäbe noch viel, was man dazu sagen könnte. Wie gesagt, wir haben letztlich alles durchgelassen. Zum Abschluss machten wir uns klar, dass die Frage, wie Gott Gebete beantwortet, nochmal eine ganz andere ist. Durchgelassen haben wir alles, wie er darauf antwortet, können wir nicht ermessen. Wie gesagt, wir überschauen das gar nicht, und es wäre doch auch furchtbar, wenn wir das alles wissen würden. Wir dürfen diese Geheimnisse vertrauensvoll Dem überlassen, der selbst das größte Geheimnis in sich birgt. Ich bin dankbar für diese äußerst kompetenten Engel.



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