Wie die Luft

Ein junger Mann kam zu einem Mönch und sprach: "Meister, lasst mich euer Schüler werden!"
"Warum willst du mein Schüler sein?", fragte der Mönch.
"Weil ich Gott finden will", erwiderte der Mann. Da griff ihn der Meister, zerrte ihn zum Fluss und drückte sein Haupt unter das Wasser. Und als er ihn wieder losließ, rang der junge Mann nach Atem. So er sich nach einer Zeit wieder beruhigt hatte, sprach der Meister zu ihm:
"Was begehrtest du am meisten unter dem Wasser?"
"Die Luft, die Luft", antwortete der Mann.
"Nun", sprach der Meister, "Wenn du Gott so begehrst wie gerade die Luft, dann kannst du wiederkommen." Und er schickte ihn weg.

Dies ist eine Erzählung aus dem Zen-Buddhismus. Nun würden wir als Christen wohl niemanden wegschicken, der nach Gott sucht, dennoch ist die Erzählung eine Metapher für etwas Wesentliches:
Sie sagt uns, dass man sich nicht halbherzig auf diese Suche machen kann; man muss es ganz tun.
Die Frage nach Gott muss eine existenzielle sein und das ist sie nur, wenn der ganze Mensch infrage gestellt ist, bedrängt von den Wassern, und er darum ringt, wie um Atemluft.
Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis sind untrennbar, man kann Gott nicht erkennen, ohne mit sich selbst konfrontiert und im Herzen getroffen zu werden.

Die Schrift gibt uns dazu eine Szene, eine andere als die Zen-Geschichte, doch mit ähnlicher Botschaft:

Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. 
Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt.
Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
(Gen 32,25-28)

Hier sind wir nicht im fernen Asien, sondern Nahen Osten, dem heutigen Jordanien.
Jakob, der Sohn Isaaks, ist auf dem Weg, seinem Bruder Esau zu begegnen, den er viele Jahre zuvor um sein Erstgeburtsrecht gelinkt hatte (Gen 27). Er zieht mit seiner Familie und seinem Besitz, und eines Nachts setzt er sich von ihnen ab, nachdem er sie über den Fluss Jabbok geführt hat, und kämpft im Morgengrauen mit einem Mann. Dieser, von der Exegese in der Regel als Engel Gottes gesehen, schlägt Jakob auf die Hüfte, sodass sie ausrenkt, was meint, er schlägt seinen Stolz an; das ist die Selbsterkenntnis.
Der Mann will zur Morgenröte aufbrechen, was meint, dass Gott noch verborgen ist, doch Jakob lässt nicht von ihm ab, denn er will ihn erkennen.
Und so spricht der Mann weiter und bedeutet die Wandlung, die sich an Jakob durch den Kampf vollzogen hat: Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob.
Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. (Vers 28.29)

Israel meint "Überwinder" und zeigt die Erkenntnis Gottes an, die durch die Auseinandersetzung und Jakobs Beharren freigeschlagen wurde. Er hinkt zwar (Vers 32), aber er hat Gott gesehen, weshalb er die Stätte Pnuél ("Angesicht Gottes") nennt, und die Morgensonne geht ihm auf.
Jakob hat überwunden und tritt am Tage seinem Bruder Esau entgegen; die beiden versöhnen sich miteinander (Gen 33).


Mein Herz erhebt dir das Wort deines Mundes:
"Mein Antlitz sollt ihr suchen."
Sodenn suche ich auch dein Antlitz, du Ewiger.
(Ps 27,8) 

Kommentare

Beliebte Posts