Das Evangelium den Armen

Und es wurde Jesus die Buchrolle des Propheten Jesaja gegeben; und er öffnete sie und fand die Stelle, wo geschrieben steht: "Der Geist des Herrn ist auf mir. Er hat mich gesalbt, den Armen das Evangelium zu verkünden; er hat mich gesandt, zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind, den Gefangenen die Befreiung zu verkünden und den Blinden, dass sie wieder sehend werden und den zerschlagenen Gemütern die Freiheit zu bringen, er hat mich gesandt zu verkünden das Gnadenjahr des Herrn." 

Und Jesus schloss die Buchrolle, gab sie dem Diener und setzte sich, und aller Augen in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Und er begann zu sprechen: Heute sind die Worte dieser Schrift erfüllt vor euren Ohren! (Lk 4,17-21)

Im Laufe der Christentumsgeschichte werden politische, revolutionäre und gesellschaftskritische Bewegungen oder Slogans entstehen, die einen ähnlichen Klang haben: ein "Evangelium der Armen", eine "Theologie der Befreiung", ein "Evangelium der Schwarzen", eine "Theologie der Frauen", ein "Evangelium für die Postmoderne" uvm ... So nachvollziehbar das ist, sich das Evangelium ganz zur eigenen Sache zu machen und so viel Einfluss diese Bewegungen auch gehabt haben und haben, so schade ist es, wenn sie aus der Not heraus entstanden sind. Eigentlich gibt es das nicht bzw. eigentlich dürfte es das nicht geben: es gibt kein Evangelium der Armen, es gibt kein Evangelium einer Gruppe oder Randgruppe, sondern es gibt nur das Evangelium. Eigentlich sollte es kein Evangelium einer Gruppe geben, sondern nur das Evangelium aller, denn es gibt nur das Evangelium aller.

Eigentlich, wenn es nach dem Meister ginge, hätte ein Evangelium der Armen gar nicht nötig sein sollen, wo das Evangelium lebt - denn schau: wie ging er denn mit den Armen um und wie hat er uns geboten, so zu sein wie er? Eigentlich, wenn es nach dem Meister ginge, sollten Begriffe wie "Theologie der Befreiung" eine Tautologie sein, wie ein "weißer Schimmel" oder wie "nasses Wasser", denn eigentlich ist das Evangelium Befreiungstheologie. Eigentlich, wenn es nach dem Meister ginge, hätte es keines Evangeliums der Schwarzen oder einer Ethnie bedurft - denn schau: wie ging er denn mit Fremden um, mit denen "von den Nationen", mit den Menschenkindern, und wie hat er uns geboten, so zu sein wie er? Eigentlich, ja eigentlich, wenn es nach dem Meister ginge, was hätten Frauen endlich ihr Anrecht und ihren Platz bei ihm finden wollen - denn schau: wie ist er mit den Frauen umgegangen und wie hat er uns geboten, wir sollen auch so sein wie er?! Eigentlich, ja eigentlich, wenn es nach dem Meister ginge, sollte ein "zeitgenössisches Evangelium" für die Moderne oder Postmoderne oder was auch immer hinfällig sein - denn schau: wie ist er mit der Zeit umgegangen, er, der sagt: Ich bin der Erste und der Letzte (Offb 1,17), und von dem es heißt: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. (Hebr 13,8)

Eigentlich, ja eigentlich, wenn es nach dem Meister ginge, hätten es alle verstanden, wer das ist: die Armen, die zerbrochenen Herzen, die Gefangenen, die Blinden, die zerschlagenen Gemüter, die Unfreien, die, die in Finsternis sind ... Das sind wir. 

Arm, weil wir des Ruhmes ermangeln, den wir bei Gott haben sollten; zerbrochenen Herzens, weil das Leben ohne Gott, der das Leben ist, vom Tod umfangen ist; gefangen, weil wir von uns selbst nicht loskommen; blind, weil wir ihn nicht erkennen; zerschlagenen Gemüts weil, wenn all das in dieser Welt nur uns Menschen obliegt, wir hoffnungslos verloren sind; unfrei, weil wir unser Herz an lauter nichtige oder gar krankmachende Dinge hängen und darin ersticken; im Finstern, weil wir unversöhnt sind mit Gott ...

Eigentlich, wenn es nach dem Meister geht, sollen wir uns das immer wieder neu zu Herzen nehmen: ich habe euch reich gemacht, die ihr arm ward, und euch den Ruhm geschenkt, den ihr bei Gott haben sollt: seine Söhne und Töchter seid ihr; ich habe eure zerbrochenen Herzen geheilt, denn der Tod ist vom Leben bezwungen, das aus Gott ist; ich habe euch sehend gemacht, denn durch mich erkennt ihr den Vater; ich habe euch getröstet, denn die Welt, in der ihr Angst habt, die habe ich überwunden; ich habe euch frei gemacht und mit allen Dingen umgehen gelehrt; ich bin das Licht geworden in der Finsternis und die Versöhnung für die Menschen mit Gott.

Das Evangelium, soweit ich es hier in Worte zu fassen vermag: den Armen, den Reichen, den Völkern, den Frauen, allen Menschen. Heute, vor unseren Ohren, immer wieder neu, möge es sich erfüllen, und wir mögen es für andere sein, soweit wir vermögen.  



Guter Herr, 

sind sie zu idealistisch, zu realitätsfern, solche Gedanken? Aber wie es auch sei, Du hast es uns ja geboten: Du hast nicht lauter Eventualitäten diskutiert, sondern uns einfach nur das Gebot mitgegeben: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe, und tragt das hinaus in die Welt. Und da lag so vieles im Argen in der Geschichte und war so voller Kummer, so vieles ermangelte des Ruhmes, den es bei Dir haben sollte; da liegt so vieles bis heute im Argen in der Welt, ist so voller Kummer und ermangelt des Ruhmes, den Du uns ja wieder schenken willst. 

Und manchmal sieht man das alles und möchte verzweifeln, aber Verzweiflung, hast Du uns beigebracht, ist nicht unsere Sache - sondern weitergehen. So hilf uns, Herr, dort, wo wir sind, das zu tun, was wir können und zu erkennen, was Du an einem Ort und in einer Situation von uns willst. 

Gehe den Menschen zu Herzen. Lass sie begreifen, welcher Segen, welche Gerechtigkeit und welcher Frieden bei Dir zu finden ist, und mit was für einer Liebe Du Dich für uns alle gegeben hast. Amen 


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