Die Nacht

 


 

Damals, im November 1938, nannten sie es die "Reichskristallnacht", jene Übeltäter des nationalsozialistischen Regimes. Benannt nach den Scherben zerstörter Fenster von jüdischen Geschäften, Synagogen und Wohnungen. Zwischen dem 7. und dem 13. November wurden im ganzen Reichsgebiet hunderte Jüdinnen und Juden ermordet, etwa 1400 jüdische Einrichtungen zerstört und ab dem 10. November mindestens 30 000 Menschen in Konzentrationslager deportiert.

Jene Nacht vom 9. auf den 10. November, Reichspogromnacht nennen wir sie heute, ging in die Geschichte ein. Was zuvor noch diffuse, noch ungeordnete Diskriminierung war, ein schlimmer Geist, der in der Luft lag wie eine Krankheit, eine böse Gesinnung, die sich organisierte und uniformierte, das wurde hier nun systematische Vertreibung und der Vernichtungswille gegenüber den Juden. Gleichzeitig brachen ein furchtbarer Exzess und eine grausame Ordentlichkeit sich die Bahn und straften jede Zuversicht in das menschliche Miteinander, das vielleicht noch wer gehabt haben mag, Lügen.

"Reichskristallnacht" nannten sie das damals, im November 1938. Wie schlimm, wie bitter, wie pervers dieser Name ist. "Kristallnacht", das passt nicht, sagten die Historiker später; "Pogrom" (russ. "Verheerung, Zertrümmerung"), das ist ein angemessener Begriff aus der traurigen Vorgeschichte antijüdischer Angriffe im russischen Zarenreich.

 


 

Es war nicht Kristall, was dort damals zerbrochen wurde, sondern etwas anderes, viel leuchtender, kostbarer und zuweilen zerbrechlicher als edles Glas oder filigraner Schmuck. Es war die Frage, ob ein Mensch als das, was er ist, ein Anrecht auf das Leben hat; ob ihm das Dasein "zugestanden ist", ob ihm Geschichte, das heißt Vergangenheit und Erbe wie auch Zukunft und Nachkommenschaft gestattet sind, oder ob ihm (dem Menschen) all das durch andere Menschen verweigert und verwehrt wird. Der Nationalsozialismus war die Verweigerung dessen, was Menschsein bedeutet. Es war die Frage, ob das jüdische Volk - von Gott erwählt als sein Volk und als ein Vorbild für die Nationen - in dieser Welt leben kann. Die nationalsozialistische Ideologie war die Verweigerung des Gottesvolkes, die Verweigerung, als Kinder Gottes in dieser Welt leben zu können. Denn was dem Volk Israel damals mitgegeben wurde und was wir von ihm haben, ist - ganz unabhängig von Ethnie und Religionszugehörigkeit - eine Grundfrage des menschlichen Daseins: begreift man sein Leben als Geschenk eines Schöpfers, dem ein Wert innewohnt, den niemand absprechen und wegnehmen kann? Und also war der Nationalsozialismus die Verweigerung Dem gegenüber, der uns alle als seine Kinder in dieses Leben gegeben hat, der Schöpfer, der Ewige.

Das ist es, was damals zerbrochen wurde, was damals zu Scherben zerschlagen wurde, im November 1938, was sie damals "Reichskristallnacht" genannt haben und was man eigentlich nur "die Nacht" nennen kann. 

 


 

Doch höre, höre Menschenkind, und siehe, sie haben es nicht vermocht! Sie haben uns nicht zu zerstören vermocht, denn der Ewige, unser Gott, er ist mit uns. Höre, und siehe, sie haben es nicht vermocht! Immernoch preisen wir Gott, immernoch segnen wir die Kinder, die uns geboren werden und pflegen unsere Kranken und Sterbenden, wenn es Zeit ist. Immernoch küssen wir uns und singen Lieder, tanzen, essen und trinken. Und immernoch erheben wir das Glas und sagen "Auf das Leben!" Immernoch hoffen wir. Und eines Tages, Menschenkind, da haben wir einander wieder. 

 


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