Die Meeresschildkröte



"Kennst du eigentlich die Geschichte der Meeresschildkröte?", fragte mich jemand vor einiger Zeit. Ich musste passen, sie war mir nicht bekannt ... Die Meeresschildkröte ist im Wasser unglaublich schnell, unglaublich, kein Schwimmer würde auch nur ansatzweise dort herankommen. Es ist aber so: sie ist gar nicht nur aus eigener Kraft so schnell, sondern sie lässt sich von den Strömungen mitnehmen, sie lässt sich tragen ... 

Ich habe mir diesen Gedanken, dieses Bild mitgenommen und musste darüber nachdenken. Zunächst einmal beginnt das Leben sehr beschwerlich und gefahrenreich für die Meeresschildkröte. Der schwierigste Weg für sie ist der vom Strand ins Meer. Kaum ist sie aus dem Sand in diese Welt hinausgetreten, kriecht sie geradewegs auf das schimmernde Ufer zu, unbeirrbar von einem inneren Gesetz geleitet, als würde der Ozean sie herbeiwinken mit den Wellen. Wo auch immer sie sich am Strand befindet, die Spur des Sonnenlichts, die über die Wogen tanzt und sich auf dem nassen Sand ausschüttet, ist immer auf sie gerichtet. 




 Auf diesem Weg von der Sandkuhle zum Wasser fechten Leben und Tod miteinander. Wenn die Dinge nicht gut stehen, dann schnappen Möwen oder andere Tiere sie und sie kommt nicht am ersehnten Ufer an. Ein Strand ist offenes Gelände und die Sinne der Feinde sind geschult, sie kennen die Zeiten, sie kennen die Stellen, sie kennen die Schwächen. Geht es gut und die erste Wasserzunge umspült sie und zieht sie mit der Verebbung ins Blaue, dann ist sie frei. Sie ist nicht einfach nur an einem anderen Ort, sie ist in einer ganz anderen Welt. Hier gräbt sie nicht, hier kriecht sie nicht, hier wälzt sie sich nicht mühsam fort, sondern hier fliegt sie, gleitet und schwebt über eine Landschaft hinweg wie draußen die Vögel über die Erde. Das Licht und die bewegte Wasseroberfläche zeichnen unablässig leuchtende Muster auf den Meeresgrund, auf den Sand, die Felsen, die Korallen; Seegras und Anemonen wehen wie langes Haar im Wind. Blickt man empor, zittert und pulsiert der helle Fleck hinter den Kräuselungen und Wogen des Wasserspiegels und folgt dem Betrachter immerzu wie zuvor am Strand. Ein Kunstwerk an Farben und Formen tritt in das Blickfeld, durch die Lichtbrechung im Wasser kristallklar gemalt. 

Die Meeresschildkröte wird von dieser Welt umgarnt und zeigt jetzt all die Gaben und Fähigkeiten, die ihr von ihrem Schöpfer gegeben sind. Die vorderen Paddel sind der Antrieb, die Hinterbeine sind das Steuer, die ganze Physik des Tieres gleitet auf Bewegungen, Strömungen und Temperaturwechseln dahin, etwa 25 km/h schnell; Lichteinfall, Strömungsverhältnisse und Magnetfeld sind die Wegweiser in dieser unendlichen blauen Weite. 

Und ich? Und Sie? Sind wir eigentlich in unserem Element angekommen, in der Welt, für die wir geschaffen wurden? Oder schleppen wir uns noch mühsam dem strahlenden Ufer entgegen und zweifeln manchmal, ob es nicht nur ein Trugbild sei, eine Fata Morgana? Ist das nur ein Traum, den ich habe, irgendein Jenseits zur Beruhigung der eigenen existenziellen Angst? Muss ich hier nur kriechen und irgendwann verwehe ich wie der Schaum auf dem Wellenkamm? 

"Ich möchte in Deine Gnade eintauchen wie in ein tiefes Meer", hieß es einmal in einem Gottesdienst. Diese Meeresschildkröte weiß gar nicht, was dieses Meer ist, worauf sie zukriecht, aber ihr ganzes Wesen, ihre ganze Natur zieht es dorthin. Glaube und Gnade sind sehr oft genauso. Wir kommen dorthin, von Sehnsucht geleitet, und tauchen in einen tiefen Ozean, den wir nicht kannten, der uns aber keine Ruhe ließ, solange wir noch entfernt waren. Alles hatte uns in der Ferne zugeraunt, wir gehörten hierher, hier sei unser Element, die Welt, in der unser ganzes Wesen erfüllt werde, unsere wahre Heimat. Zuweilen hatten uns geschulte und wachsame Gemüter den Weg beschwerlich gemacht, es gebe dort nichts zu finden, es sei dort keine Heimat, wir hätten hier zu kriechen und zu darben und das war´s. Wie schön, wenn man der richtigen Stimme gefolgt ist. 

Sich endlich nicht mehr nur mit der eigenen Kraft vorwärts mühen, von der eigenen Körperschwere auf den Boden gedrückt, in einer Welt, in der wir uns selbst fremd vorkommen, in der alles falsch zu sein scheint. Endlich in das wahre Leben eintauchen, getragen von Etwas, das unermesslich viel größer ist als wir, wo wir aber zum ersten Mal in uns selbst wirklich zuhause sind, wo wir wahr werden ... 

Die bunte Landschaft auf dem Meeresgrund bricht jäh ab und verliert sich in der schwarzen Tiefe. Die Meeresschildkröte macht vor sich ein schwaches weißes Band aus, das sich durch den Ozean schlängelt, und folgt dem Wechsel der Temperatur. Sie schwebt seitlich heran, neigt die Flanke und lässt sich in den Strom hineinfallen, der sie umfängt und mit sich nimmt ins Unendliche.




Hab` Dank, geliebter Vater, für diese schöne Welt und dieses unschätzbare Leben. Amen



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