Der Geigenbogen, oder: Ist alles miteinander verbunden?

Streicht man einen Geigenbogen an der Kante einer mit Sand bestreuten Metallplatte entlang, weicht der Sand der Schwingung in die Areale, die am wenigsten Schwingung aufweisen, das sogenannte Interferenzminimum oder auch Knotenlinie. Der Sand bildet Muster auf der Platte, die Chladnischen Klangfiguren, mit denen der Physiker Ernst Chladni die Akustik begründete. Heute stellen Künstler wie Alexander Lauterwasser diese Resonanzgesetze mit Lautsprechern und Wasser nach, also wesentlich feinere Frequenzen an einem filigraneren Medium. Diese Darstellung von Klängen und Wellen ist als "Kymatik" bekannt, ein Begriff, den der Schweizer Forscher Hans Jenny prägte.
 Wie bei diesem faszinierenden Beispiel, so ist vieles, was die Wissenschaft durch das Experiment sichtbar werden lässt, bereits in der Antike erdacht und als Idee uralt. So dachte Pythagoras schon an einen sphärischen Klang und an die wohlgeordnete Mathematik des Kosmos, Heraklit nahm die einander anziehenden Gegensätze und den stetigen Wandel an, Parmenides beschreibt dichterisch als erster so etwas wie den Energieerhaltungssatz, das ewige Sein alles Seienden, welches zwar die Form wechseln, niemals aber erzeugt oder verlorengehen kann, und Siddhartha Gotama - der als der "Buddha" in die Geschichte einging - erkannte Gehirn und Denken als ein Sinnesorgan neben den anderen Sinnesorganen.
 Nur sehr mühsam kommen manche allmählich dahin zurück, zu der rein materialistischen Datenerhebung und Naturbeschreibung auch wieder den menschlichen Geist hinzuzuziehen, die Vorstellungskraft als Tochter des inneren Erlebens, das Erleben als ein Zeuge, der Wahrhaftigkeit beansprucht.
 Und man mag vielleicht einsehen, dass jene angestrengte Objektivität nicht existiert, dass sie nur eine Frage der Ebene ist, eine Frage der Wahrnehmung - wie die Blinden in der Parabel, die verschiedene Stellen eines Elefanten betasten und zu ganz unterschiedlichen Ansichten darüber kommen, was eben ein Elefant sei; dass nur die Poesie erkaltet, die Sprache, die Fähigkeit, Erkanntes für sein eigenes Leben einzufassen, Anschauung zur Herzensbildung werden zu lassen.
 Man weicht in das Interferenzminimum aus und erkennt nicht, welche Formen und Muster man bildet, welcher Kräfte Sandkorn man ist, geschweige wer den Geigenbogen führte. Der Mensch hat sich so bemüht, den Geist, der ihm selbst eingestiftet ist, der Betrachtung zu entledigen und in das Universum wie in einen gähnenden Abgrund zu blicken, zufällige Begegnung günstiger Ereignisse und Gesetzmäßigkeiten, ohne Liebe, ohne Vorstellung, ohne Leitung, ohne Stimme. Er hat sich so um Individualität bemüht und nimmt sich das einzige, was wirklich ihm allein gehört: das eigene Er-leben, die Seele, wie man früher sagte, und muss sich stattdessen mit möglichst vielen kurzweiligen Sinnesreizungen vollpumpen, damit keine Besinnlichkeit aufkomme, die den Blick etwa auf ihn selbst lenke. Dort aber lebt doch alles. Dort ist doch auch ein Kosmos.
 Wie ist es denn? Ist alles miteinander verbunden? Ja, das ist es. Die Welt ist ein Gewebe, zusammengeflochtene Stoffe, Elemente und Kräfte, in Beziehungen verstrickt, einander beigesellt aus Begegnung oder aus Gesetz. Dort ist mancherlei gesetzt, manches frei zu einem Wege oder einem anderen, alles aber ein Werden und Vergehen, ein Vergehen und Werden. Man kann die Relationen, die Wechselwirkungen und Verhältnisse vom Atom bis zur Galaxie ersehen - was das bedeutet, gehört einem ganz allein, wie gesagt, und ist wiederum Ausdruck einer Beziehung.
 Es ist jedoch ein Irrtum, sich dem Weltganzen und der Menschheit verpflichtet zu sehen - völlig abstrakten Begriffen - dem Nächsten gegenüber aber immernoch kein Herz zu haben, dem, der einem beigesellt ist, sei es aus Begegnung oder aus Gesetz. Mancher hat keinerlei Schwierigkeiten damit, humanistische Slogans zu posten und sich gleichsam über das Tanzvideo eines fettleibigen Mädchens auszulassen, die für Aufmerksamkeit und Zuneigung jeglicher Art bereit ist, sich öffentlich lächerlich zu machen. Wir erkennen zuweilen nicht, dass all dies, diese Scheinwelt, die wir uns erschaffen haben und diese riesige Maschine, die uns nun bedrängt, auch Realität ist; ebenso wie unsere Gefühle, unser Innenleben, unser Liebgewonnenes, auf das wir so viel Wert legen und welches wir so leichtfertig preisgeben.
 Die Verbundenheit, Liebe und Eintracht erwachsen daraus, dass man das Geheimnis erkennt, welches der Mensch und das Leben ist, dass man sich selbst in ihm wiedersieht: auch dieser Mensch war einmal einer Mutter bis unter das Herz gewachsen, dem Leben hingegeben und geboren - allem Leiden dieser Welt zum Trotz - entsprechend der Möglichkeiten aufgewachsen und erzogen, bei allen Gaben und Fähigkeiten, allen Schönheiten und Hässlichkeiten, die dem Menschen eigen sind und die wir bei uns selbst gewürdigt oder verziehen sehen wollen. Es erwächst die Einsicht, dass alle Wesen Geschöpfe eines Schöpfers sind. Es gibt keine verschiedenen Götter, es gibt nur verschiedene Betrachtungen, Erkenntnisse und Lehren über Gott und die Anmaßung, ihn ganz erfasst und für sich und seinen Klan zu haben - der Körperteil des Elefanten, die Knotenlinie zwischen den Wellen.
 Dieses Geheimnis, wenn man es erkennt, nötigt einem Liebe, Geduld und Demut ab: die Liebe aus dem, was einen rührt und fasziniert, die Geduld aus der Liebe - denn mit dem, was wir lieben, haben wir stets Langmut -, und die Demut, dass man niemals dies Geheimnis ganz durchdringt, niemals alles gesehen, niemals alles ermessen, niemals alles erfasst hat. Deshalb sind die Götter so tot, die esoterischen Wege so verlogen und irreleitend, die Naturwissenschaften so arm. Die Erkenntnis der eigenen Grenzen, die Einsicht, dass man nur an den Ufern eines tiefen Wassers schreitet, weist den Kräften und Personen ihren richtigen Platz zu. Wie Sokrates sagte: Ich weiß, dass ich nicht weiß!, oder Gott dem Hiob sagt: Bis hierher sollst du kommen; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!, oder wie Paulus schreibt: Jetzt blicken wir in einem dunklen Spiegel ein unvollkommenes Bild ...
 Denn es ist nicht recht, wie die von den Mysterien und Kulten, wie die von der Gnosis, dem Okkultismus und der Esoterik behaupten, der Mensch habe alles Geheimnis bei Gleichmut und Weltentfremdung zu durchschauen und sich habhaft zu machen, um erleuchtet zu werden und erlöst. Da bleibt nichts Schönes, nichts Wahres, nichts Gutes mehr, sondern Wahn, Entsagung und Selbsthass. Und die Erleuchtung, die man so manchem Guru zuspricht, ist eine böse Krankheit: ihr hysterisches Lachen, ihr Zappeln und Zucken, ihre Selbstverletzung und Leibfeindlichkeit, ihre Abtötung natürlicher Gefühle für eine "höhere Bewusstseinsebene", ihre Veranstaltungen und Verrenkungen, um mit Göttlichem in Kontakt zu treten, der ganze Zinober, eine blendende Erleuchtung. Alles muss man prüfen, wes Geistes Kind es ist, es komme mit wissenschaftlicher Sachlichkeit daher, mit unfehlbarer Gottesoffenbarung oder mit dem Erleuchtungsgeist. Die Gotteserkenntnis begreift die tiefe Schönheit in allen seinen Werken, die Selbsterkenntnis begreift die eigene Fehlbarkeit und die Möglichkeit zum Irrtum.
 Die Metapher des Geheimnisses bildet sich in jedem Menschen ab, in jeder Geburt (lat. "natura"), denn man wird immer der Mühsal, dem Leiden und dem Bösen zum Trotz geboren und jedes neue Leben ist ein Widerspruch dessen, was sich uns in der Welt so übermächtig inszeniert. Am Anfang sind wir wie am Ende, am Ende wie am Anfang dem hingegeben, was uns gebildet, was uns gehalten, was uns geleitet hat - man habe es begriffen oder nicht - dem, der uns geliebt hat. Das Ende ist das Offenbarwerden dessen, was wir geworden sind, worin wir eingeflochten waren, welchen Verbindungen wir zwischen all den wogenden Wellen teilhaftig waren, wes Geistes Kind wir waren.

Niemals vergeht mir die tiefe Faszination für dieses Leben.

 https://www.youtube.com/watch?v=ZapVVYLr5K8

Kommentare

Beliebte Posts