Die Große Enttäuschung



In einer Märznacht des Jahres 1844 steht ein Mädchen auf einem der weiten Felder, die zum Gut ihres Vaters gehören, und blickt in den Sternenhimmel. Sie hatte sich etwas abgesetzt, Mutter und Vater stehen mit den Babys vor dem Haus und schauen ebenfalls ans Firmament. Sie suchen den Himmel nach Zeichen ab, nach einem Licht, das aufscheinen und alles erhellen wird, nach einem Strahlen, das wie ein Blitz von Osten gen Westen gehen und das gesamte All erleuchten wird. 

Sie ist voller Erwartung und Hoffnung, voller Anspannung und voller Bilder und Vorstellungen. Es sind Bilder und Vorstellungen, die ihre Eltern in ihr geweckt haben, die die Prediger ihr mit Worten gemalt hatten, welche zu den Versammlungen gekommen waren. Sie hatte dem zugehört und wie es so ist bei den Kindern, ist der Glaube der Eltern erstmal auch der eigene, denn ihnen vertrauen sie und halten das, was sie sagen, für richtig. Durch diesen Umstand kann viel Gutes mitgegeben oder aber viel verwundet werden. 

Die Versammlungen hatten im eigenen Haus oder den Häusern der Nachbarschaft stattgefunden, auf Lichtungen im Wald mit aufgebauter Bühne oder auf freien Feldern wie dem, auf dem sie gerade stand. Man sang Lieder, hielt Andachten und betete gemeinsam. Die Frauen und Männer, die sich dort zusammenfanden, waren aus unterschiedlichen Gemeinden - Methodisten, Presbyterianer, Episkopale, Baptisten und Reformierte - und sie alle verband ein gemeinsames Verständnis, eine gemeinsame Hoffnung, nämlich das Ende der Welt, die Wiederkehr Jesu Christi. Diese Botschaft hatte sich in Neuengland und darüber hinaus verbreitet und viele Christen zusammengeholt. Ein Prediger namens William Miller hatte die Parusie* aus dem Buch des Propheten Daniel hergeleitet und sie - nach ersten Fehlschätzungen - für diese Märznacht angekündigt.** 

Nun steht sie da in der kühlen und stillen Dunkelheit. Der Vater hatte sie schon rufen wollen, damit die Familie zusammenstehe, wenn der Herr wiederkomme, doch seine Frau hatte ihn zurückgehalten: "Lass sie ein wenig ..."

In der stillen Erwartung rennen lauter Bilder durch ihren Geist und versuchen, das Unvorstellbare auszumalen; die Fantasie wirft Bilder ans Himmelszelt, setzt es in Bewegung, lässt dort Gestalten erscheinen, die durch den Weltraum schreiten, als sei es ihr Grund und Boden. Engelscharen kommen heran wie eine brandende Welle und ergießen sich über die Welt, ein strahlendes Licht durchzieht das All und im Zentrum eines jeden Betrachters erscheint der Erlöser und Weltenrichter, in Weiß gekleidet und von einer unermesslichen Schönheit. Die Himmelskörper verblassen neben diesem Licht und alle Menschheit erkennt, dass es niemals der Kosmos gewesen war mit seiner Sonne, seinem Mond und seinen Sternen, der ihnen wirkliches Licht gespendet hatte, sondern Er war und ist das Licht der Welt. Seine Engel gehen an allen Enden ihres Blickfelds zu Werke und sie sieht erste Menschenkinder in den Himmel hinaufsteigen, ihm entgegen, und das ganze Universum wird von ihrem Gesang erfüllt. Das Licht dieser Wesen bildet Räume im Weltraum, bildet Breite, Höhe und Tiefe, als würde jemand vor ihren Augen eine riesige Skizze anfertigen, als würde nun hervorkommen und sich abheben, was das menschliche Auge sonst nicht sehen kann. Auch zu ihr kommen sie, ohne Worte, wunderschön und wohlgesonnen, und auch sie hebt es empor, einer Wirklichkeit entgegen, die in diese hier hineinstrahlt, mit ihr aber nichts gemein hat. Im Hintergrund dieses Szenarios hebt sich schwach und golden glänzend die himmlische Stadt ab, der unzählige Pilgerscharen an Menschen entgegenströmen. An die Eltern und die Geschwister verliert sie keinen Gedanken, es ist alles ruhig und friedlich in ihr, es ist jedem und allen so, wie es soll, wie es recht ist, und weder hat sie Sorge um die ihren noch hat sie Sorge um sich selbst, sodass sie lieber die Eltern als Beistand bei sich hätte. Als sie dem Zentrum entgegenschwebt, hofft sie, dass ihr Blick sich schärft und sie Jesus richtig erkennen und anschauen kann, denn sie wünscht sich nichts lieber als das; sie möchte ihn sehen und mit ihm sprechen, ihn anfassen und bei ihm sein, wie die Kinder damals, von denen er zu seinen Jüngern sagte: Weist sie nicht ab, sondern lasst sie zu mir kommen, denn ihnen gehört das Reich Gottes (vgl. Mk 10,13-16).

Sein Antlitz verblasst am schwarzen Nachthimmel, die Konturen der himmlischen Stadt und die Umrisse der Engel verlieren sich in den Sternbildern und den vereinzelten Wolken dort oben. Das Auge sucht, der Atem geht unterdrückt und hält manchmal inne, man will weder durch Blinzeln noch durch Atemzüge etwas übersehen oder überhören, den Beginn nicht verpassen ... Aber da begann nichts. Sie lauschte und schaute, und nichts geschah, kein himmlischer Klang ertönte, keine Erscheinung und keine Bewegung durchdrang das Gestirn. Der Wind wehte wie zuvor, glitt rauschend durch das Geäst der Bäume, die Hühner scharrten dort vor dem Haus, die Babys schlummerten, gaben vereinzelt schmatzende oder quengelnde Geräusche von sich, das Leben ging weiter. Binnen Sekunden wechselten die Gefühle in ihr, erst wich die Anspannung einer Erleichterung, dann machten sich tiefes Unbehagen und Beklemmung in ihr breit. Es war die Erleichterung darüber, dass das Leben einfach weiterging, dass es in dieser Welt normal zuging und nicht solche Sachen passierten, die alles infrage stellten; dass sie weiter mit ihren Freundinnen spielen konnte, auf den Feldern umher rennen und den Wind in den Haaren fühlen, im Wald herumstreifen und am Bach das Plätschern zu hören und das Glitzern des Sonnenlichts auf der Wasseroberfläche zu sehen, die Babys zu streicheln und zu liebkosen, in die Schule zu gehen und zu lernen, sich ihr weiteres Leben auszumalen; dass am Tag die Sonne schien und des Nachts der Mond und die Sterne, dass nach dem Winter der Frühling kam und auf ihn Sommer, Herbst und wieder Winter folgten, dass all dies das normale Leben war, der Lauf der Welt, der Weg der Menschenkinder und aller Wesen dieser Erde. 

Das Unbehagen hingegen griff tiefer in sie. Zum einen, weil Hoffnung immer an Vorstellungen gebunden ist, die alles schöner malen als es ist, man also das Bessere ersehnt, zum anderen, weil diese Vorstellungen nun als Irrtum, als Täuschung, gar als Lüge entlarvt wurden, ferner, weil sie zu ihren Eltern blickte, mit ihnen fühlte und sie zugleich für immer anders sah. Sie wurde durch das Mitgefühl mit ihnen verbunden und durch eine Erkenntnis von ihnen getrennt, und all das war falsch, denn auf eine solche Weise sollen Kinder eigentlich nicht erwachsen werden. 

Zudem war ihr dieses Unbehagen bekannt. Es hatte sie bei den zahlreichen Predigten, Andachten und Gesprächen immer wieder angefasst, wenn es um das Weltende und das Gericht ging, wenn davon erzählt wurde, das Volk Gottes werde dem Herrn entgegengehen, die Ungläubigen und Sünder aber seien auf ewig verloren, die Engel werden endlich über die Felder gehen und das Unkraut vom Weizen trennen (vgl. Mt 13,24-30.36-43). Das hatte sie oft bedrückt und war ihrem Kinderherzen schwer gewesen, dass Menschen verlorengingen, vor allem aber, dass sie selbst oder einer ihrer Lieben vielleicht verlorenging. 

Dennoch: ein seltsamer Reiz hatte immer auf alledem gelegen, was sie gehört und worüber sie nachgedacht hatte, wie der Morgentau auf Blättern, Grashalmen und Blüten lag und schimmerte. Nun schien das alles durch die Eindeutigkeit von Tatsachen zerbrochen. Die Tatsache war: es geschah nichts. Der Wind wehte weiter, das Leben hienieden ging fort. Der Morgentau und sein Schimmer waren zwar schön für das menschliche Auge, hatten aber keine Bedeutung. 

Ihren Vater hatte sie in der Stille zur Mutter noch sprechen hören: "Warten wir noch! Seine Zeit ist ja nicht unsere Zeit ...", und sie waren noch stehengeblieben und verharrten in ihrer Haltung. Sie aber wusste, dass es vorbei war, dass nichts geschehen würde; sie wusste es, als das Bild vor ihrem geistigen Auge erloschen war. Die Eltern blickten noch hinauf - sie blickte zu den Eltern. Sie sah, wie die verstreichenden Sekunden und Minuten ihren Vater zerknirschten, wie die Stille und das Ungeschehen ihn bedrängten, ihn zum Getäuschten machten. Sie sah, wie es im Kopf der Eltern arbeitete, man sich und anderen die Dinge erklären musste, es ja Unglaube wäre, jetzt hinzuwerfen. Sie wusste, dass ihr Vater gleich oder später - nach einer Weile - sich an den Tisch setzen und die heilige Schrift durchgraben würde, das Buch Daniel studieren, nachrechnen und neu rechnen würde, um den Fehler zu finden, den Irrtum zu entdecken, und es dann ihrer Mutter und ihr erklären würde. Vielleicht - dieser Gedanke strich schwach an ihr vorüber - war ja alles ganz anders, anders gemeint, anders zu verstehen, die Worte und Sätze anderer Bedeutung und Übersetzung ... 

 

Der Irrtum des Vaters war kein unbedeutender und folgenloser. Es gibt ja auch solche: man irrt sich, lässt sich von falschen Ansichten einspannen und geht eine Weile in die verkehrte Richtung, kommt zur Besinnung und kehrt um, und all das war eine Lehre, aber letztlich ohne gravierende Folgen. Der Vater aber hatte alles treu auf diesen Glauben gesetzt, er hatte sein Hab und Gut mit dem Ablauf dieser Nacht an andere abgetreten, es ihnen versprochen, und stand nun vor dem Ruin. Er hatte sein Gesicht verloren und der Spott und die Kritik der Leute aus den Orten hatten Recht bekommen. Darunter war sogar ein guter Freund von ihm gewesen, ein sehr besonnener Mann, der ihn gefragt hatte, ob er bei Sinnen sei, wie er denn für solche Mutmaßungen und Gespinste alles aufgeben könne. "Seinerzeit", hatte er ihm zu erklären versucht, "hat der Herr Jesus dem reichen Jüngling gesagt, er solle alles weggeben, was er hat, und solle ihm allein nachfolgen! So hat er alle seine Jünger von ihrem Tagesgeschäft und ihrem Besitz weggerufen, um mit ihm zu gehen. So hat er es ihnen noch zuletzt geboten, sie sollten nichts groß bei sich tragen und keinen Besitz führen, sondern alles für ihn hinter sich lassen. Und nun naht dieser Tag, da er uns endgültig zu sich ruft, und da sollte ich noch etwas hier festhalten wollen, halbherzig und ohne Glauben?"

Der Freund hatte verständnislos den Kopf geschüttelt: "Du glaubst doch nicht Gott, wenn du sowas tust, sondern du glaubst Menschen! Du folgst Menschen nach. Denke an deine Frau, denke an deine Kinder, werde doch vernünftig!"

Sie würden es gut haben, die Frau und die Kinder, und er wünschte, sein Freund könne diesen Glauben finden und dieses Vertrauen fassen ... Damit hatten sich die beiden schweren Herzens einander entzweit. Zugleich aber begleiteten beide die letzten Worte des anderen noch lange: so fragte er sich, ob sein Freund Recht hatte und ob er bloß Menschenlehren folgte, konnte den Gedanken aber letztlich nicht zulassen. Und sein Freund war heimlich beeindruckt von dieser Treue, von dieser Absolutheit, dieser tiefen Sehnsucht, und fragte sich, was wäre, wenn es tatsächlich stimmen würde, wenn sie wirklich vor dem Ende der Welt stünden, wenn, verborgen in Bibelversen, die kaum einer kennt, dieses Geheimnis schlummerte. Doch auch er verwarf seinen Eindruck immer wieder. In dieser Märznacht, in der nichts geschah, befand sich der Freund im Stammlokal und hörte andere sich lustig machen über die Milleriten. "Lasst es gut sein!", hatte er ihnen zugerufen und dann wieder gedankenversunken auf die Tischplatte geschaut. 

Der Vater des Mädchens saß nun ebenso versunken an seinem Schreibtisch und las und fand keine Ruhe mehr. Sicher würden morgen früh die Brüder kommen, man würde sich besprechen, würde kundgeben, wo man sich zur Versammlung traf, um über die Sache nachzudenken und zu beten; es würde Gerede in den Orten geben, es würde Streitigkeiten geben, manche würden sich abwenden von der sogenannten Adventhoffnung. Seine Augen wollten nicht recht auf dem Text ruhen, sie gingen hin und her und verloren sich wie seine Gedanken. Die Bestürzung, die er empfand, konnte er kaum in klare Worte fassen. Sein Blick ging immer wieder über die Verse: Ich aber hörte einen Heiligen sprechen, und ein anderer sprach zu diesem: Wie lange währt dieses Gesicht vom täglichen Opfer und von der gottlosen Verwüstung und vom Heiligtum, das zertreten wird? Und er antwortete mir: Zweitausenddreihundert Abende und Morgen vergehen, dann wird das Heiligtum wieder zurecht gebracht. (Dan 8,13-14)

 

Miller und jene, die sich um seine Botschaft zusammengefunden hatten, die "Milleriten", hatten die Vollendung der 2300 Abende und Morgen eben auf diesen März 1844 berechnet und verstanden unter der Zurechtbringung des Heiligtums die Wiederkehr Christi auf Erden. Die Brüder fanden sich tatsächlich zusammen und man korrigierte sich nach diesem Irrtum nochmal auf den Oktober desselben Jahres. Als auch dann die ersehnte Wiederkehr ausblieb, ging dies in den Adventkirchen*** als "Die Große Enttäuschung" ("The Great Disappointment") in deren Entstehungsgeschichte ein. Verschiedene adventistische Richtungen und Strömungen erwuchsen daraus.   

Das Mädchen dieser kleinen Erzählung hatte in der Nacht noch den Worten ihrer Mutter zugehört, die sich an ihr Bett gesetzt hatte. Sie hatte sich in Tröstungen und Erklärungen versucht, war aber bald am unbewegten Blick ihrer Tochter verstummt, hatte geseufzt, sie geküsst und gesagt: "Nun denn ... Schlaf gut, mein Schatz! Gott segne dich!" Dann war sie rausgegangen und hatte geweint. Das Mädchen war langsam, aber mit unaufhaltsamer Schwere, in einen tiefen Schlaf gesunken. 

Die Angelegenheiten des Vaters mochten sich geregelt haben. Viele verloren damals einiges, schlimmstenfalls all ihre Habe, mindestens ihren guten Leumund. Ersteres bewältigte man mit der Hilfe der Familie und Freunde, Letzteres bewältigte man mithilfe der Zeit. 

 


* Die Wiederkehr Jesu Christi (von parousia "Gegenwart, Anwesenheit/Dabei-sein bei").

** Dan 8,13-14. Die Stelle bezieht sich eigentlich auf die Entweihung des Jerusalemer Tempels durch Antiochus IV. Epiphanes 168 v. Chr.

*** "Adventisten" (von adventus "Ankunft")


Kommentare

Beliebte Posts