Bewahrung auf dem Wege

Der Ewige, unser Gott, er hat uns geführt und behütet auf dem ganzen Wege, den wir gegangen sind. (Josua 24,17)

 

Mayflower, 21. November 1620. Die sogenannten Pilgerväter (pilgrim fathers) legen in der Neuen Welt an, Cape Cod/ Massachusetts. Die Mayflower ist ihr Schiff, auf dem sie von Plymouth in England aufgebrochen waren, um die Alte Welt hinter sich zu lassen. Sie hatten dort mit ihren abweichenden religiösen und politischen Ansichten keine Heimat und auch keine Sicherheit mehr, ihresgleichen wurden angefeindet, verfolgt, gefoltert oder gar hingerichtet, Separatisten und Dissenters (also Abweichler) nannte man sie.


  

In der "Neuen Welt", dem nordamerikanischen Kontinent, würden sie frei sein, ihren Glauben leben und pflegen können, und eine andere Gesellschaftsordnung nach dem Willen Gottes errichten. Sie hatten sicher manches mal an der Reling gestanden, mit diesem erregenden Gefühl aus Hoffnung und Unsicherheit, und auf das weite Meer geblickt, auf schimmernde Wogen, vor sich, hinter sich, Backbord, Steuerbord, bugwärts, heckwärts ... Auf dem Meere kann der Unkundige kein Vorne und kein Hinten, kein Links und kein Rechts ausmachen, er muss sich selbst nehmen und das Schiff, um sowas zu sagen, hat keinen Kompass, kann die Sterne nicht lesen und achtet nicht recht auf die Sonne, ist einfach nur da, auf dem großen weiten Wasser, voller Erwartungen und Sorgen. Alles umher ist ewige Bewegung und Regung, ständiger Wandel, Aufwogen und Verebben, Erleuchten und Verschatten, oder - bei Flaute - eine Stille, die das Festland nicht kennen kann. 

"Das ist das Leben", sagte da vielleicht Einer versonnen zu einem Anderen, "Was dem Volk Israel die Wüste war, das ist uns das weite Meer, der Aufbruch, die Ungewissheit, die Hoffnung, das Murren, die Sehnsucht, der Horizont, die Angst ..." - "Der Beistand", fügte der Andere hinzu.

Ich weiß manchmal nicht, ob wir das heute noch so richtig fühlen wie sie damals; mit unseren Autos, Zügen und Flugzeugen, mit unseren engmaschigen Updates und News aus der ganzen Welt. Aber es hat sich grundsätzlich nichts geändert, wir sind immerzu auf Reisen, brechen irgendwo auf, landen irgendwo an, suchen die ersehnte Heimat, haben unterwegs zu lernen und zu meistern. Die Bibel ist, nicht von ungefähr, voll solcher Geschichten des menschlichen Daseins, seien es Adam und Eva, die aus dem Garten hinaus in die Welt müssen, sei es Abraham, der seinen Heimatort verlassen soll in fremde Lande, sei es das Volk Israel, das aus Ägypten in die Wüste geführt wird, seien es die Jünger Jesu, die in alle Enden der Erde gesendet werden. Es ist, wie auch die Mayflower, das Gleichnis, das uns die Menschengeschichte immer wieder liefert. Denn man liest und betrachtet in ihnen nichts Vergangenes, weit Zurückliegendes, sondern unser Menschendasein ist darin abgebildet; es gibt dort keine Vergangenheit, ebensowenig wie es eigentlich Hinten und Vorne mitten auf dem Meere gibt.

Im Trott, in dem wir kurzsichtig und matt werden, erkennen wir das oft nicht recht; all unsere Annehmlichkeiten, die ja schön sind, helfen dieser Empfindung nicht recht auf, es braucht meist die Krise dazu. Die aufrüttelnde Erfahrung, die einen wieder sprechen lässt: "Ich bin wie ein Schiff auf dem weiten wogenden Meer", die Stimme, die einen wieder herausruft aus der Sesshaftigkeit und in die Ferne weist, der Gefährte und Lehrmeister, der mit einem geht, Brüder und Schwestern, gleiche Gesinnung und herzensinnere Verwandtschaft. Man muss sich das wieder heranziehen und lebendig werden lassen, denn wir sind zuweilen wie Verschüttete, unbeweglich, kurzatmig, verblassender Phantasie und verfremdeter, taubwerdender Sinne. 

Der Ewige, der diese Pilgerfamilien damals aus der Alten in die Neue Welt geführt hat, ist der gleiche, der einst in die Städte der Welt oder durch die Wüste begleitete. Er weckte die ermatteten Sinne, entfachte Vorstellungskraft und neuen Atem, rief das Ansinnen vieler Menschen zusammen und damit die Kraft, den mühsamen Weg zu wagen. Waren das nicht letztlich Not und Bedrängnis?, mag man fragen, und die sichere Fahrt, waren das nicht kundige Seeleute und günstige Winde? Not und Bedrängnis ohne Hoffnung weisen aber keinen Menschen auf die See und lassen keinen Horizont erkennen, und gute Leute auf solch einer Reise sind ebenso ein Geschenk wie die guten Winde; wir sehen manchmal so vieles nicht auf unseren Pfaden! Irgendwo, und wenn es auch in weiter Ferne liegt, muss ein Licht entzündet sein, dem das Herz entgegenstrebt, sonst bewegt man sich nicht. Am Ende des Weges wartet kein Unbekannter, sondern ein Vertrauter, der, zu dem wir gehören, selbst wenn das Land noch fremd ist und das Meer ein unwirkliches Gelände.

Wohin haben wir also aufzubrechen, sei es im neuen Jahr, am Beginn der Woche oder im Morgengrauen? So unterschiedlich das sein mag, manches sollte uns Christen gemeinsam sein: den anderen Menschen eine lebendige Zuversicht zu sein, Trost, Beistand und Gefährte, vielleicht sogar Hafen und Heimat.

Die Pilgerväter- und mütter hatten ihr ersehntes Neuengland erreicht. Was dann daraus geworden ist, was man aus all den Vorsätzen und dem gewonnenen Paradies gemacht hat, ist eine andere Frage. So ist das nunmal mit den Menschenkindern. 

 

Ach, ich bin wie ein Schiff auf dem weiten wogenden Meer

Und da ist kein Land, kein Ort, kein Hafen um mich her

Alles, o geliebtes Leben, 

sorgenvoll und schwer

Muss ungewisse Pilgerin, die Seele, dem Gefährten geben.

 

  

Kommentare

Beliebte Posts