Der Brief

 


Der Pulk löste sich langsam, nachdem er gesprochen hatte. Manche diskutierten über das, was sie gehört hatten, manche spotteten, manche hatten sich lange vorher schon innerlich verabschiedet von dem, was der Mann da gepredigt hatte, hatten nur mit den Schultern gezuckt und sich wieder ihren Dingen zugewendet. Manche runzelten die Stirn, weil sie im Prinzip nichts verstanden hatten; sie hatten Worte gehört, sie hatten Inhalt vernommen, aber es war ihnen schleierhaft, was er eigentlich gesagt hatte. Manche gingen ihm nach, von Interesse entzündet und sagten ihm, sie wollten das Gehörte überdenken und ihn nochmals dazu ausfragen, morgen, in den kommenden Tagen ... Eine Frau stand stille da, auf dem Areopag, sah dem Prediger hinterher und dachte nach. Sie dachte nach über das, was sie gehört hatte und bewegte es in ihrem Innern. Sie musterte ihn, der ein Stück entfernt noch stand und mit einigen Leuten sprach: ein gedrungener Mann mit Halbglatze, schwarzem Bart, engstehenden Augen und dicken Brauen.

 Er hatte schon in den Tagen zuvor von sich reden gemacht, hatte in den Synagogen gesprochen, hatte Volksgenossen gegen sich aufgebracht und auf dem Marktplatz die Gemüter der Philosophen erregt, Epikureer, Platoniker, Stoiker. Solche sprachen nun miteinander:

 "Was ist das für eine Sache?"

 "Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was das für eine Sache ist. Ich habe nie davon gehört."

 "Kennst du diesen Mann?"

 "Nein."

 "Er ist nicht bei Sinnen!"

 "Wie ist sein Name?"

 "Paulus."

 Paulus ... Paulus ... Sie führte den Namen auf den Lippen, als sie den Platz verließ und die bemoosten Stufen einer Seitentreppe in den Schatten des hohen Mauerwerks trat, von Pinien und Zypressen eingefasst, die ihren Duft in die Wärme des Tages gossen. Der Areopag erhob sich neben ihr wie ein Schiffskörper und in dieser schattigen Stille kam ihr in den Sinn, wie treffend dieses Gleichnis war: da oben, auf dem Schiff, da besprachen sie die Weltgebäude, die Sitte, die Rettung der Menschheit, die Erlösung vom Leiden, die wahre Lehre, die Navigation auf dem Weltenmeere ... hier unten, im aufgeschäumten, vom Kiel durchschnittenen Wasser, in der Zerrinnung, da fand das Leben statt, das jene Denker und Propheten erlösen wollten, da fanden Schönheit und Unvollkommenheit statt, zu denen die Waisen sich fragten, wie sie das eine für immer behalten könnten und das andere auf ewig überwinden. Jetzt war ein neuer Lehrer gekommen und mit ihm eine neue Lehre. Und sie nahm ihn mit sich, seine Gesten, seine Worte, seinen Eifer, seinen Heiligen, von dem er sprach, sann nach und forschte über alldas.

 


Pherenike, Tochter des Silenos und der Sousanna, an den Paulus von Tarsus in Rom.

Seid gegrüßt, teurer Paulus. Ich erfuhr durch Nachforschungen, dass Ihr nun in Rom weilt und dort die Menschen unterrichtet in Eurer Lehre. Ich hoffe, dass dieser Brief Euch erreicht und Ihr möget bereits bekannt genug sein, dass man ihn Euch zukommen lässt, wenn er sich doch verirren sollte.

 Was Ihr dort nun lehrt, in Rom, das habt Ihr damals in Athen auch gelehrt. Ihr werdet Euch zweifellos an Athen erinnern, aber keineswegs an mich. Ich war am Rand gestanden und hatte Euch und Eure Lehre gehört. Wir sind uns niemals begegnet. So gestattet Ihr, dass ich mit diesem Brief zu Euch komme, obgleich ich keine Erinnerung in Euch zu wecken vermag. 

 Ich habe mir nun zu Herzen genommen, was Ihr damals in Athen erzähltet, und seither viel geforscht über diese Sache. Und seitdem bin ich von immer mehr Fragen begleitet über diese geheimnisvolle Botschaft. So fand ich erstmal, dass Ihr von einem Mann redet, der Jesus geheißen hat und der vor vielen Jahren in Jerusalem gekreuzigt worden war wegen Anklagen und Vorwürfen, die mir nicht ganz klar zu sein scheinen. Ich konnte aber dazu niemanden finden, der mir Klarheit darüber verschaffen konnte. Dieser Jesus nun sei aus dem Volk Juda gewesen, habe ich erfahren, und es habe Leute gegeben und gibt sie, die ihn für den Messias Israels halten. Doch habe ich auch dort sehr unterschiedliche Ansichten zu gehört und es findet sich nicht recht, was Wahrheit ist. Nun kenne ich zwar die Juden und ihre Religion ein wenig, doch verstehen wir sie nicht und sie verstehen uns nicht; wir argwöhnen einander. Wo Ihr dort steht, das habe ich noch nicht erkannt. Jedenfalls habe ich erfahren, dass man unter den Juden nicht daran glaubt, was von diesem Jesus erzählt wird - weder, dass er der Messias sei, noch dass er auferstand von den Toten - und dass Ihr ihnen ein Dorn im Auge seid mit Eurer Predigt. 

 Das verwunderliche und geheimnisvolle an Eurer Philosophie ist nun, wie Ihr zwei Lehren übereinanderlegt wie gekreuzte Schwerter. Denn wir kennen es zwar bei uns, dass die Götter Menschen werden, nicht aber, dass sie Menschen sind und das menschliche Leben führen und solcherart Anteil am Geschick der Menschen nehmen. Die Juden hingegen, soweit es mir bekannt ist, ließen niemals ihren Gott einen Menschen sein oder einen Menschen ihren Gott, aber ihr Gott ist voller Anteilnahme, voller Verlangen und voller Eifersucht, voller Liebe und Groll für sie. Das ist es doch, was Ihr zusammengeflochten habt, nicht wahr?

 Wenn ich Euch aber von ihm sprechen höre, in meiner Erinnerung, in dem, was ich über Euch erfahren habe, dann sehe ich keinen Menschen, sondern ich sehe einen Gott. Wo ist der Mensch? Wer war Jesus und warum wisst Ihr darüber nichts zu sagen? Weil Ihr ihn nicht kanntet, nicht wahr? Ihr seid dem Menschen nie begegnet, sondern Ihr seid dem begegnet, was er hinterlassen hat. Ihr seid der Treue, dem Glauben und der Liebe seiner Gefährten begegnet. Und Ihr erkanntet, dass Ihr blind wart in Eurem Hass gegen die Nachfolger des neuen Weges, weil der, den sie liebten, Euer Herz wendete.

 Und nun, da Ihr so gewendet wurdet und ein neuer Mensch, wie Ihr erzählt, seid Ihr doch immernoch derselbe und streitet nun mit dem gleichen Feuereifer für diese Lehre, mit dem Ihr zuvor für das Gesetz der Religion gestritten habt. Wie es Eure Natur ist, so tut Ihr`s und bleibt Euch treu. Denn nichts wendet die Natur eines Menschen, die ihr von Gott gegeben wurde. Wie es doch in euren Gesängen heißt: Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an. 

 Habt Ihr das Leben eigentlich je geliebt? Habt Ihr es geliebt, als Ihr ein Eiferer für das Gesetz wart? Habt Ihr es liebgewonnen, als Ihr ein Knecht Christi wurdet, wie Ihr Euch zu nennen pflegt? Denn was ich höre ist, dass Ihr das Leben geringschätzt und es Euch am liebsten wäre, alle wären schon ledig aller Leidenschaften und begehrten nur noch den Geist und das Jenseits. Und Ihr duldet heute so viel Widerspruch wie damals in Eurem alten Leben, nämlich gar keinen. 

 Zweifelsohne, das sind die Menschennaturen, die zu Legenden werden. Zweifelsohne werdet Ihr eine Legende werden. Ich aber stehe nach all den Jahren immernoch am Rande auf dem Areopag und höre Euch reden und forsche diesem Gott nach, der in Euch diesen Glauben entfachte und in so vielen diese Liebe. Er ist mir ein Geheimnis. Und sicher werdet Ihr mir sagen, ich solle keine Zeit verlieren, Euren Glauben anzunehmen, denn die Zeit sei kurz und das Ende sei nahe. Hierin aber bin ich so unbeirrbar auf meinem Pfad wie Ihr auf Eurem. 

 Dies Leben ist ja von Gott gegeben, nicht wahr? Von wem sonst soll es gegeben sein, wenn nicht von Gott? Und ich wähle das Leben, diese Gabe Gottes. Ich wähle Freude und Leid, Glückseligkeit und Schmerz, Geist und Fleisch, Vervollkommnung und Unvollkommenheit, Vorzüglichkeit und Verfehlung, Glaube und Zweifel, Hader und Hingabe. Ich wähle alldas, dessen Ihr abgestorben sein wollt und ja doch nicht absterben könnt, wenn Ihr ehrlich seid. Ich wähle alldas, dessen sich die Philosophen entledigen wollen und es ja doch nicht können, sondern sie sind auf Gedeih und Verderb einfach Menschen. 

 Ich wollte gerne jene Menschen treffen, die ihn gekannt haben, diesen Jesus, in dem das göttliche Geheimnis verborgen war und mit dem sie auf so geheimnisvolle Weise verbunden sind bei ihren Treffen. Aber ich bin alt und mache keine Reise mehr. Vielleicht wird aus ihnen einmal jemand über sein Leben schreiben und darüber, wer er war, sodass er nicht nur ein Geist bleibt, sondern mit Leibhaftigkeit überkleidet wird. Hatte er denn Freude? Hatte er Trauer, Wut, Sorge und Angst? Hat er gelacht, hatte er Träume und Hoffnungen, hat er das Essen und Trinken mit seinen Freunden genossen? Hat er gelebt, hat er geliebt, bevor er starb und auferstand und ein Mythos wurde, ein Gott? 

 Es bleibt mir, Euch zu danken. Denn ohne Eure Rede wäre ich niemals bewegt worden, niemals herausgefordert, niemals angestiftet. Was aber kann es teureres geben, als angefacht zu werden zur Suche nach der Wahrheit? 

 Es grüßt Euch Pherenike. 


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