Reformation

 Wittenberg, Anno Domini 1517

Geschäftiges, spätmittelalterliches Treiben, ein Großreich, ein zusammengesetztes Mosaik aus Klerus, Fürstentümern, Ständegesellschaft, Mundart, Blutsbande, Aberglaube und in Latein codierten heiligen Schriften ... Ein hagerer Mann mit aschblonden Haaren, ruhigen, bernsteinfarbenen Augen, den Blick auf den staubigen Weg geheftet, ohne aufzusehen, als wolle er nicht bemerkt oder erkannt werden, ging mit dem ihm eigentümlichen, etwas tänzelndem Gang seinem Ziel entgegen. Er trug das Kleid eines Gelehrten und führte Blätter mit sich, zusammengerollt in seinen Händen, die er an sich drückte wie ein geliebtes Kind. In seinen Gürtel hatte er einen Hammer gesteckt und ein kleines Jutesäckchen mit Nägeln daran festgebunden, das unter seinen Schritten zitterte. 

Es waren einige Menschen auf den Gassen unterwegs, gingen ihrem Alltag und ihren Geschäften nach und kümmerten sich - soweit er ausmachen konnte - nicht um ihn. Es roch nach Erde, nach Gemüse, nach Fleisch, Blut, Schweiß, Brot und Feuer. Ein Schmied erklärte einem Lehrling, über ein Arbeitsstück gebeugt, das Handwerk, glitt mit seinen schweren, harten und verbrannten Händen über die Ecken, Kanten und Flächen, und lehrte den Schüler weniger mit Worten als mit den Augen und der Vorstellungskraft, wie es die Art der Künstler und Handwerker war. Eine Magd schaute sich an einem Stand Gewürze und Kräuter an, wobei sie unentwegt von einer dicklichen Frau mit rötlichen, krausen Haaren, speckigem Gesicht und flinken grünen Augen vollgequatscht wurde, die ihr den neuesten Klatsch der Umgebung ausbreitete. Einen Korb voller Einkäufe vor dem mächtigen Busen, hob sie immer wieder mahnend den Zeigefinger, voller Gewissheit, dass sie nicht Gerüchte mitteilte, sondern Wahrheit, und nickte nach jedem Satz selbstbestätigend. Er schnappte Sätze auf, Mischungen aus tatsächlichen Begebenheiten, Hörensagen und der abergläubischen Ausdeutung alldessen, Gelegenheiten, über Sündhaftes und Obszönes zu reden, weil es die Sünde der anderen war. In einer Ecke bezahlte ein in feinem Samt gekleideter Herr gerade einen Abtrittanbieter für die Toilette, ein Stück weiter saß ein kleiner, schmutziger Junge an eine Hauswand gelehnt und spielte mit zwei Stöckchen Ritterkämpfe nach. Schräg gegenüber stand ein zahnloser Alter mit dicker Knollennase, eingefallenen Wangen, zerfurchtem Gesicht und irren Augen, der die Arme ausbreitete und laut gröhlend lachte. Als drei junge Frauen mit verächtlichen Blicken an ihm vorbeigingen, deutete er prophetisch auf sie und rief: "Welche Zierde, anmutige Blümelein, heute erblüht, morgen verwelkt, ach ach, jaja ..." Die Frauen beschleunigten angewidert ihren Schritt. Zwei Männer handelten mit Lederwaren, eine ältere Dame mit stark gebeugtem Nacken saß auf einem Hocker und rupfte Daunen aus einer Gans, ein Mädchen stand etwas abseits und schaute mitleidig zu, zwei Studenten der Theologie rauschten an dem Gelehrten vorbei, vertieft in ein angeregtes Gespräch über die Substanz des Seins ...



Der Humanist wirkte ebenso konzentriert wie versonnen. Lauter Gedanken flatterten durch seinen Geist wie die Tauben auf dem Platz, wenn man ihnen zu nahe kam, auseinanderstoben in alle Richtungen und sich allmählich wieder versammelten, weil sie zueinandergehörten. 

Die Gasse lichtete sich, öffnete sich der breiten Schloßstraße und der Kirche, seinem Ziel, und während er so ging, wurde er der Leute gewahr, die sich dort nach und nach vor der Türe der Schloßkirche verlangsamten und dann stehenblieben. Er wurde des Mannes gewahr, der an der Türe stand und mit festen Schlägen Blätter an sie hämmerte. Und auch er verlangsamte seinen Lauf und blieb dann stehen. Die Leute tuschelten, Neugier und Erregung lagen in der Luft.

"Wer ist das?", fragte einer. "Das ist der Doktor Martinus!", erwiderte ein anderer. "Der Doktor Martinus?", grübelte einer. "Der Luder! Er lehrt die Theologie hier", sagte einer ...

Die Hammerschläge hallten über das Gewimmel hinweg und zogen immer mehr Aufmerksamkeit in der Umgebung auf sich. Die Leute rückten Stück für Stück näher, wie Schachfiguren, die nach und nach ein Feld weiter gesetzt wurden. Sie lasen Latein, das sie nicht verstanden, und darunter Deutsch, das manche verstanden, und flüsterten sich einander zu, was sie aufschnappten, was sie lesen konnten, was sie verstanden, was sie deuteten. 

Auch der Humanist trat durchs Gedränge näher heran, wurde von einigen durchgelassen, die seine Kleidung erkannten, und las die Artikel, die dort angeschlagen waren. Es waren Disputationsthesen, theologische Paragraphen über die Kirche in der Art und Weise, wie man es schrieb unter den Theologen. Er betrachtete den energischen Mann in der schwarzen Kutte, mit der drahtigen, asketischen Figur und den durchdringenden Augen. Er kannte den Doktor nicht persönlich und hatte ihn noch nie gesehen, aber natürlich hatte er von ihm gehört: es war Martin Luder, Doktor der Theologie und der Schriftauslegung, dessen Vorlesungen durchaus bekannt waren unter den Studenten und Gelehrten.



Der Philosoph senkte den Blick auf die zusammengerollten Blätter in seiner Hand, schaute wieder zu den Thesen auf, dann zu den Leuten, forschte und las in ihren Gesichtern und fühlte, dass hier und heute etwas Großes anbrach, dass eine Morgenröte am Horizont erschien, die er selbst gerne entfacht hätte, aber er war zu spät gekommen. Er bemerkte ein Mädchen, eigentlich schon eine Jugendliche, mit sehr hellen Haaren, blassem Gesicht und himmelblauen Augen, die ihn musterte und mit einer Art Erwartung auf seine Papierrolle schaute. Sie sahen sich lange an und langsam, still und unbemerkt von den anderen, lächelten sie sich sachte einander zu. Er seufzte in sich hinein, senkte den Blick wieder unter dem Lächeln, als sagte er sich: Nun denn, so sei es.

Dann ging er und das Mädchen sah ihm nach, folgte ihm mit den Augen zuerst, sah ihn seine Papiere zusammenknüllen und auf einen Haufen Gartenabfälle werfen und verlor ihn dann unter den Menschen in den Gassen. Nach einem Blick zu ihrer Mutter, die mit einer anderen Frau sprach, entfernte sie sich, ging zu dem Haufen aus Laub, Zweigen, Grasschnitt und Gesträuch, und nahm das Papier an sich. Sie öffnete die Blätter, glättete sie und überflog sie. Nach ein paar Zeilen schaute sie sich verstohlen um, freudig und gespannt, faltete die Blätter so oft es ging zusammen, damit sie nicht auffielen, schob sie über ihrer linken Brust in das Kleid und zog den Mantel davor. Zuhause würde sie abends, in einem zwischen Dachbalken eingepferchten Zimmerchen, die Blätter hervorholen und sie lesen, und würde sie immerzu bei sich tragen und verbergen für den Rest ihres Lebens.

Sie würde vermählt werden, sie würde Kinder gebären und das Haus führen und niemals ihren Stand verlassen. Sie würde all die Unruhen, Debatten, Kämpfe und das Blutvergießen des neuen Zeitalters mitansehen, die Beschimpfungen, all den Hass, die allegorischen Fratzen von Dämonen, Teufeln und Antichristen, die man sich einander entgegenhielt, die Verbrennungen von Schriften, von Menschen, die Folter und Abschlachtung von Häretikern, sei es durch die eine, sei es durch die andere Kirche. Sie würde manchmal weinen und manchmal versucht sein, die Blätter hervorzuholen und auch irgendwo anzunageln. Sie würde einen groben Ehemann haben, sie würden evangelisch werden, er würde grob bleiben - alles würde gleich bleiben, nur unter anderer Gestalt. Sie würde ihren Sohn zur Schule schicken können, sie würde ihn in einem der Aufstände verlieren. Sie würde bei all dieser Bitterkeit, all diesen Umbrüchen, all diesen Parteiungen und Schlachten eine Ruhe bewahren, ein stilles Wissen, angestiftet durch diese Schrift. Sie würde immer mal wieder Ausschau halten, ob sie ihn irgendwo wiedersähe, ob sie ihn irgendwo wiederfände, doch ihm nicht mehr begegnen. Sie würde, gewahr, dass ihr Leib langsam ermüdete, ein Feuer anzünden und diesem die Blätter übergeben, mit gesenktem Blick lächelnd, als sage sie sich: Nun denn, so sei es. Und alles würde in Flammen aufgehen, sich von den Rändern nach innen hin kräuseln und schwärzen, die Schrift durchstochen werden, versetzt werden, verformt werden, verzehrt werden von beißender Lohe ... und unausgesprochen bleiben. 



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