Abgedankt?

Wird in unseren Breitengraden in den Medien über Religion und Glaube gesprochen, so sind die Titel der Sendungen und die Eingangsfragen der Moderatorinnen und Moderatoren meist sehr ähnlich: "Brauchen wir noch die Religion?", oder: "Welche Rolle spielt die Kirche noch?", und dergleichen.
 Was dort kaum rausgefunden wird ist, wie unsinnig diese Frage eigentlich ist, denn der Mensch ist ein religiöses Wesen und folgt dieser Sehnsucht, die ihm inne ist, seit er als denkendes, geistbegabtes Geschöpf in dieser Welt die Augen aufgeschlagen hat. Und drei Geheimnisse treiben ihn seit jeher um: das Leben ansich, die Liebe und der Tod. Alle Kultur, aller Ritus, alle Kunst, Musik, Literatur und alles Schauspiel ist darauf gegründet, der sich selbst vorfindende Mensch sucht seinen Platz und seine Aufgabe im Kosmos und die Verbindung mit der Quelle seines Daseins. Zwar mag auf unserem nordeuropäischen Fleckchen Globus die "Volkskirche" abgedankt haben, weil immer weniger Menschen darin eine Heimat finden, doch sieht dies erstens international ganz anders aus und zweitens sagt dies nichts über die Religiösität des Menschen, denn er sucht sich andere religiöse Wege und Formen.
 Zu dieser Frage debattierten schon zahlreiche namhafte Gäste in feinem Zwirn, in weichen Sesseln und gut ausgeleuchtet; die einen, bei denen die Religion vorwiegend Beruf ist, und die anderen, bei denen Religionskritik vorwiegend Berufung ist. Da diskutiert man in angenehmer, intellektueller Atmosphäre und niemand muss sterben oder für das, was er glaubt, bezahlen.
 Zuweilen räumt man ein: "Wir können die Religion nicht abschaffen, wir würden zahlreiche Menschen ins Unglück stürzen und ihnen die Hoffnung nehmen". Es stellt sich die Frage: Wer ist eigentlich "Wir"? Wer würde was abschaffen? Wer ist Wir, wenn gefragt wird, ob wir noch die Religion brauchen? Die Vereinnahmung, die man vor allem hierzulande den Kirchen vorwirft, pflegt man selbst und beansprucht für sich eine säkulare Gesellschaft, die es gar nicht gibt und die nie existiert hat. Ebenso, wie vor einigen Jahren proklamiert wurde "Wir sind Papst!" - das ganze verirrte Verständnis einer Kirche sozusagen in einem Satz konzentriert - werden Religionskritiker, Kirchenferne und "Konfessionsfreie" einer erfundenen Aufklärungsgemeinschaft einverleibt, die dann herablassend fragt, ob es eigentlich noch Religion brauche.
 Sogenannte Neue Atheisten rezitieren ihre eigenen Dogmen und Mantras, allesamt mühsam studiert und allesamt falsch, und versichern zornig oder süffisant lächelnd, sie seien Humanisten und es gehe doch um den Menschen. Da wird in den Raum gestellt, der Atheismus habe maßgeblich den Fortschritt der Menschheit vorangetrieben und meist werden die drei großen geistesgeschichtlichen Säulen genannt: hellenische Antike, Renaissance-Humanismus und Aufklärung. Doch waren die antiken Philosophen mitnichten Atheisten, die Humanisten der Renaissance mitnichten Atheisten, die Denker der Aufklärung mitnichten Atheisten.
 Da wird eine Kluft zwischen Glaube und wissenschaftlicher Erkenntnis konstruiert und als gegnerische Partei stets der evangelikale Kreationismus aufgestellt. Da wird die Natur, die Schöpfung zur Gottheit gemacht, und man will Leben aus der Materie geboren sehen, von der Evolution hervorgebracht. Evolution kann kein Leben hervorbringen, Evolution geschieht im Leben. Das Zusammenfinden von Bedingungen, das rechte Maß an Zuneigung und Abstoßung, die Regeln, die aus dem Chaos Schönheit und Ordnung einrichten, lassen eine Art von Vernunft erkennen, die all diese Gesetze geschrieben hat. Wo die Biologie zumeist blind ist, da sie nach dem Tode beurteilt, der allem Leben einwohnt, berührt die Physik zumindest den Saum seines Gewandes.
 Da wird dem menschlichen Wesen eine Güte und ein Friede nachgesagt, der erst mit der Religion in Unfrieden und Gewalt umgeschlagen sei. Wo doch auch die Religionen von Menschen unterhalten werden und also das Schlechte des menschlichen Herzens hier wie dort - in der Religion wie in allen anderen Einrichtungen - zu diesen Übeln führte und führt. Es mag vor dem sogenannten Monotheismus keine Religionskriege gegeben haben, stattdessen gab es Ressourcenkriege und diese Tradition erhalten wir Aufgeklärten ja vorbildlich aufrecht.
 Dieser Mensch, den sie meinen, eine "Trockennasenaffenart", wird beschrieben und behandelt, als sei er ein Tier ohne Erkenntnis von Gut und Böse und als würde es gutgehen, wenn man ihn mit seiner Vernunft alleinließe. Von seiner Natur und uralten, eingeborenen Instinkten determiniert, sollen Begriffe wie "Gut und Böse", "Schuld" oder "Sünde" am besten aufgegeben oder ersetzt werden und diesem Wesen wird dann der Aufbau des Weltfriedens anvertraut. Da er Empathie besitze, fühle er mit anderen Artgenossen mit und über die Spielregeln der Fairness ließen sich gerechte Verhältnisse in einer Gesellschaft installieren - so die Vorstellungen. Man meint sich dem Tier besonders vertraut, wenn man sich ihm gleichmacht, ist damit doch keinem Lebewesen geholfen. Nicht die Entdeckung unseres Animalischen kommt dem Tier zugute, sondern die Erkenntnis der vom Schöpfer eingerichteten Ordnung: der Mensch ist dem Tier als Hirte und der Natur als Gärtner berufen.
 Die Frage und das Nachsinnen, ob da die Selbstorganisation der Natur regiert, oder ob da ein Geist ist mit Vorstellung, mit Willen, mit Begehren, mit Hingabe, dies bleibt in der Philosophie ein ewiger Tanz mit Gott, ein Wandel, der Gott und den Menschen wechselnd auf- und untergehen lässt wie die Sonne und den Mond. Es gibt dort letztlich keinen Sieg der Argumente, sondern Stolz oder Ergebung.
 Religion und Glaube seien in Ordnung, heißt es vom neuen atheistischen Lager, solange es "Privatsache" bleibe und niemand dadurch behelligt werde. Noch so ein irriger Anspruch. Denn wenn - sofern wir von freien Ländern sprechen und uns als ein solches behaupten - Menschen das Recht haben, sich zu versammeln und ihren Glauben mit Gleichgesinnten zu gestalten und zu leben, so hat dies eine Öffentlichkeit und man wird dadurch behelligt, ebenso wie jeder Gläubige sich behelligen lassen muss durch das, was andere so als ihren Lebenssinn ausleben. Und so wie jeder Mensch aus dem heraus, was er denkt, glaubt, gelernt und erkannt hat, an allem in der Gesellschaft Teilhabe hat, seine Meinung äußert, seine Kinder erzieht und aus seinem Herzen preisgibt, so tun dies auch wir und dort ist nichts Privatsache, sondern alles ist in Beziehung und im Diskurs mit der Umwelt. Es ist ein trügerisches Denken, man könne irgendwo nicht als ganze Person sprechen und handeln, sondern sich auftrennen.
 Beides braucht der Mensch: alle Freiheit zu lernen, Erfahrungen zu sammeln, Erkenntnisse zu gewinnen, Fehler zu machen, zu widersprechen und den eigenen Charakter zu stärken, das eigene So-sein zu vertreten, aber auch einen Weg gewiesen zu bekommen. Jede gesunde Erziehung tut das. Der Mensch hat von sich aus kein Maß, es wird ihm durch andere gewiesen. Alleingelassen mit sich selbst ist er eben nicht frei, wie manche meinen, sondern launisch und uferlos, und wird allein sein Befinden zum Gebot machen. Das Ego ist kein guter Lehrmeister, sondern der Ursprung allen Übels, und seine Hoffnung auf den Menschen zu setzen mag edel sein, ist aber eine schlechte Wahl. Jeder Rechtsstaat weiß dies und befestigt daher Gesetze, die nicht der Emotion oder der Meinung anheimgestellt sind, sondern als Ideale über den Menschen erhaben sein sollen; nicht, um ihn zu unterdrücken, sondern um ihm das rechte Maß an Freiheit zu gewährleisten. Confirm thy soul in self-control, thy liberty in law!, so schreibt es Katherine Lee Bates 1895 in einem Gedicht an ihr Heimatland, das heute sozusagen die zweite Nationalhymne der Vereinigten Staaten darstellt: America the Beautiful. Dass der Mensch an diesen Idealen scheitert, macht sie nicht hinfällig, sondern umso nötiger, denn das Gebot dient nicht maßgeblich dazu, seine Befolger zu erkennen, sondern seine Übertreter: Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde (Rö 3,20)
 Ringen wir nicht momentan genau darum? Um die Demokratie, um den Rechtsstaat, um eine europäische Identität (um die man sich freilich etwas früher hätte sorgen sollen), angesichts des Rückzugs einiger Leute in verwesende Ideologien und religiösen Fundamentalismus - reanimierte Totgeglaubte. Entweder kommt der Mensch zur Einsicht oder aber er wird durch das Gesetz bezähmt. Obgleich manches doch recht seltsam ist: wenn beispielsweise eine Partei zugelassen wird, dann aber medial alles daran gesetzt wird, die Bevölkerung zu bewegen, sie nicht zu wählen, da sie nationalistisch und verfassungsfeindlich sei. Wenn sie verfassungsfeindlich ist, warum gestattet man sie? Steht die Demokratie denn zur Wahl? Steht die Menschenwürde zur Wahl? Aber so ist es und so debattiert man Grundwerte, die gar nicht zur Debatte stehen sollten, um einen Gesellschaftsspiegel zu erhalten und die "Freiheit" der aufgeklärten Gesellschaft ist es, die ehemalige Parteisprecherin öffentlich als hässliche Schlampe zu besingen ("Die Bitch der AfD"). Das dürfen wir in unsrer freien Welt und so ist sowohl solch eine Partei wie auch der mediale Umgang damit ein Spiegel unserer Welt. Ebenso sind ein Donald Trump, seine Wahl durch das Volk und der mediale Umgang mit ihm ein Spiegel unserer Welt. Das ist die wahre "Verfassung" unserer Länder.
 Es war auch die "Freiheit" der aufgeklärten Gesellschaft, Karikaturen von Mohammed zu veröffentlichen, wissend, was folgen würde. Das müssen Religionen aushalten können, hieß es überall, man darf Religionen und das ihnen Heilige kritisieren und lächerlich machen. - Ja, das darf man. Und es offenbart eben die Gesinnung. Es offenbart genauso die Gesinnung, wie die Reaktionen eine Gesinnung offenbaren, wenn Menschen auf der Straße Flaggen in Brand setzen, Botschaften attackieren oder gar wirklich andere umbringen in ihrem Zorn. Alldas ist ein Spiegel und man wird, wenn der Tag der Erkenntnis kommt, genau das zu sehen bekommen: das Herz, das man hatte und das Wesen, das man war.
 Alles, was es gibt, gehört auch in diesen Kosmos; zugegeben, eine sehr schlichte Erkenntnis, aber zuweilen gesund, sich daran zu erinnern. Denn zumindest in den Medien ist man oft nahezu mittelalterlich, wenn irgendwelche Prominenz, die irgendeinen Fehler begangen haben, an den virtuellen Pranger gestellt oder wie die Sau durchs Dorf getrieben werden, ohne einen Hauch von Besonnenheit oder Gnade, und wenn Verfahren nicht der Justiz überlassen werden, die dafür zuständig ist, sondern über soziale Netzwerke ausgetragen werden.
 Auch der Verfehlende, auch der Verirrte, auch der Verbohrte, auch der Verblendete gehört in diese Welt. Und ginge es um den Menschen, wie immer behauptet wird, so hätte man für sie nicht Hohn und Spott übrig, sondern Bedauern und Mitgefühl und wollte sie unterrichten, was gut ist, und für sie beten, dass ihr Sinn verändert werde. Es ist ein Irrtum zu glauben, man sei aufgeklärt, weil man die Freiheit habe, ohne Konsequenzen über fast alles herzuziehen. Es ist ein Irrtum zu glauben, man sei aufgeklärt, weil die Wissenschaft immer mehr entdeckt. Es ist ein Irrtum zu glauben, man sei aufgeklärt, weil die Machtkirche nicht mehr den Staat dominiert. Es ist ein Irrtum zu glauben, man sei aufgeklärt, weil man mit der ganzen Welt vernetzt ist und nahezu frei überallhin reisen kann.
 Wenn Aufklärung der "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmüdigkeit" ist, wie Immanuel Kant es schrieb, dann also auch und als erstes der Ausgang aus der Selbstsucht. Denn sie ist die Wurzel allen Übels - jetzer ha-Ra, wie die Hebräer es nennen - und so schmal ist manchmal der Grat zwischen dem natürlichen Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung und dem pervertierten Verlangen nach Verehrung, Ruhm und Macht. Deshalb kennen zahlreiche alte religiöse und philosophische Lehren den Gedanken, dass man erst sterben muss, erst von seiner Selbstsucht freiwerden muss, bevor man wirklich lebendig werden kann. So scheint vielen - schon in der frühen Menschheit - das Verständnis aufgekommen zu sein, der Mensch werde durch sich selbst bedrängt und gestört, sein Wissen, dass er sterben werde und sein Daseinsdurst. Und so gab es Gott manchen zu erkennen, dass man sich nicht selbst befreit, sondern er es tut: Ergebung statt Stolz, Hingabe statt Selbstgerechtigkeit.
 "Den Sohn annehmen", wie es bei uns heißt, bedeutet nicht eine Götzenfigur, aus der man sich Herrgottswinkel und Talismane schnitzt oder auf Konzerten "Jesus!" zu brüllen, sondern sich selbst zu vergessen und einem Pfad zu folgen, den er uns gewiesen hat: Liebe. Was manche Weisheitslehrer als Methode zur Selbstvervollkommnung gelehrt haben, kann niemals eine Methode sein, sondern ist ein Geschenk, eine entzündete Flamme. Wem dieses Licht nicht gegeben ist, der erlangt es auch nicht durch die eigene Mühe. Es gibt keine Methoden, um zu Gott zu kommen, und das ist die ganze Empörung mancher, wenn es heißt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen. (Joh 14,6.7)
 Ob Kirchen Orte sind, wo dies gelehrt wird und lebt, bleibt eine besorgte Frage, ein Ringen, seit es sie gibt (Lk 18,8). Brauchen wir sie noch? Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?, fragt Jesus den Petrus, den er zum Hirten der Urgemeinde einsetzte (Joh 21,15-19; Mt 16,13-19). Das war die Frage, das ist die Frage, das bleibt die Frage für uns.
 Man mag sich einbilden, wir hätten all diese Aufklärung und Freiheit, von der wir heute reden und um die wir streiten, auch ohne diesen Mann aus Nazareth, und verkennt so die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge.
 Sowohl die Freiheit, ihn zu verwerfen, wie auch die Freiheit, sein Evangelium zu verkünden und die Menschen damit zu behelligen.

Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
 (Mt 28,18-20)                                                                            

Kommentare

Beliebte Posts