"eine Zunge, wie sie Jünger haben"

Nachdem sie gesungen hatten, wurde es still und er erhob sich zur Andacht:
 Liebe ... Brüder und Schwestern ... Darf ich das sagen? Kann ich das sagen? Es ist nicht mehr unbedingt so Gepflogenheit oder Redensart, das so zu sagen. Man hört öfters "Liebe Besucher und Besucherinnen", oder "Liebe Mitchristen", "Liebe Gemeinde", oder einfach nur "Sie" und "Ihnen". Wollte man manchen Theologen folgen, könnte man auch sagen "Liebe am-christlichen-Orientierungsangebot-interessierte-Mitmenschen" ...
 Ich mag den Gedanken, dass ihr meine Brüder und Schwestern seid; dass ihr meine Familie seid. Ist das zu "fromm"? Wir kennen uns gar nicht alle unbedingt so gut. Nun, wenn es um die "Menschheitsfamilie" geht, die wir alle auf diesem Globus bilden, dann fällt das scheinbar leichter, denn das liest und hört man überall. Und hier? Wie gesagt, ich mag den Gedanken sehr.
 Das Schöne ist, Gottes Geist kann das. Er ist der Einzige, der das kann. Er kann uns, die wir so unterschiedlich, so einzigartig sind, einen gemeinsamen Geist geben, Gemeinsinn und Liebe zueinander. Der Sinn und das Empfinden dafür, dass sich hier Gleichgesinnte treffen, die gemeinsam einen Weg gehen und einem Herrn folgen. Jeder verschieden, mit seinem Charakter, mit seinen Stärken und Gaben, seinen Schwächen und Abgründen, seiner Freude und seinen Sorgen. Mit all den Aufgaben, Debatten und Meinungsverschiedenheiten, in denen man "seinen Mann oder seine Frau" stehen muss, aber dennoch ein Geist und eine Familie.
 Wie er das macht, weiß ich auch nicht. Es ist eines der vielen Geheimnisse Gottes; er entfacht es in uns, als zünde er eine Kerze an, die langsam den dunklen Raum erleuchtet. Bei unserem Glauben hat er das ja auch getan. Und er kann es auch tun, dass wir, die wir hier zusammen sind, uns gegenseitig richtig sehen: nicht als Besucher einer Veranstaltung, sondern als Weggefährten auf einem Lebensweg. Die Naturelle sind verschieden, die Fähigkeiten und Begabungen sind verschieden, die Lebenssituationen und Interessen sind verschieden, aber es ist ein Geist, der all diese Sprachen spricht. Wie bei dem Pfingstereignis in der Apostelgeschichte. Beim Turmbau zu Babel wurde alles verwirrt, an Pfingsten wurde alles wieder einträchtig. Gott gab dort nicht eine Sprache, die plötzlich alle verstanden - er uniformierte die Menschen nicht - sondern er gab es den Aposteln, dass sie die Sprachen der Leute sprechen konnten, in ihren Dialekten und Mundarten. Und Petrus nannte dies das Zeichen, das verheißen war: Gottes Geist wird ausgegossen in die Herzen der Menschen.
 Ja, es gibt Strukturen, es gibt Tradition, Liturgie, kulturelle Prägung und Regeln in einer Gemeinschaft. Regeln sind nichts schlimmes, sie sind etwas schönes, wenn sie unter dem richtigen Geist stehen. Dieser Geist ist die Liebe, dieses furchtbar abgenutzte und missbrauchte Wort; aber es bleibt dabei! Dort kann auch nichts täuschen: die Liebe bedrückt und unterjocht niemanden. Bei manchen Brüdern und Schwestern aus anderen Strömungen, aus anderen Familien, macht es leider zuweilen den Eindruck oder geschieht buchstäblich, dass sie ihre Kinder oder die ihnen Anvertrauten nicht in die Freiheit lassen, sondern sie binden und abhängig machen, sie bedrängen und durch Angst fesseln. Und sie glauben, sie ehren Gott damit. Bei euch aber, sagte Jesus seinen Jüngern und Jüngerinnen, soll es nicht so sein. Lasst es bei uns nicht so sein!
 Unsere Kinder gehören uns nicht. Wir haben sie eine zeitlang bei uns in unserer Obhut und müssen sie dann auch einmal gehenlassen. Und unsere Mitgift ist hoffentlich alldas Gute, das wir sie lehren konnten, Liebe, Versöhnung, Barmherzigkeit, Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit und alldas; Respekt und Achtung vor jedem Menschen und Mitgefühl für das Leid der anderen. Der gute Weg, die gute Lehre und das tiefe Vertrauen, dass sie niemals alleine sind, sondern jemand mit ihnen geht auf diesem Pfad, der sie liebt, der sie lehrt, der sie leitet. Offenheit dafür, sich auch kritisieren und korrigieren zu lassen, und der Mut dort, wo man nicht abweichen kann, sondern sich selbst und seiner Linie treu bleiben muss und seiner inneren Stimme zu folgen hat.
 Und vor allem Dankbarkeit. Dankbarkeit für dieses schöne Leben, für die Freiheit, in der wir leben können und dass wir genug haben von allem, was wir zum Leben brauchen, wahrlich genug.
 Denn in anderen Landstrichen dieser Welt leben Menschen nicht in Freiheit, können nicht laut sagen, was sie denken und glauben, müssen Hunger leiden, werden verfolgt, gefoltert und ermordet, können niemals richtig ihren Begabungen und Interessen nachgehen, und haben oft kaum eine Wahl.
 Es ist zuweilen bei manchen so, dass sie sich gerne als die Verfolgten, als die Märtyrer betrachten, die von der Welt gehasst werden. Sie grenzen sich ab, fordern die Menschen auf, eine bedrückende Lehre anzunehmen, und wenn jene davon nichts wissen wollen oder den Kopf darüber schütteln, dann sagen sie unter sich "Seht ihr, die Welt hasst die Wahrheit!", und zitieren Paulus und andere.
 Man sollte nüchtern bleiben. Die Schriften von Paulus, Petrus oder Johannes sind Märtyrerschriften. Denn sie sind wirklich verfolgt worden. Sie hat die Welt, in der sie lebten, wirklich gehasst und die Folterer haben ihnen angeraten, sie sollten doch ihren Leib und ihr Leben retten und ihrem Jesus abschwören. So wichtig es ist, diese Zeugen zu lesen, so wichtig ist es, sich dies vor Augen zu halten, denn es macht dankbar und besonnen. Es gibt Brüder und Schwestern auf der Welt, denen sind diese Briefe reale Lebensbeschreibung und Trost in den dunkelsten Stunden der Verfolgung, der Folter und der Hingabe für Gott.
 An sie sollten wir denken, für sie sollten wir beten, dankbar sein und es uns zu Herzen nehmen, das Evangelium in unserer Welt zu erzählen und zu leben. Denn wer kann wissen, ob sich hier nicht auch einmal der Wind dreht und wir werden zu Verfolgten? Wer weiß das? Es gab auch hier mal andere Zeiten und es erwachen teilweise alte Geister, die man begraben glaubte: böse Ideologien, die Rückkehr zu Blut und Boden oder zu Kreuzrittern, die Wiederkehr religiöser Fanatiker, die Menschen verachten und ihnen das Lebensrecht absprechen; und damit verachten sie Gott. Es gibt keine Gottesliebe ohne Menschenliebe. Vergessen wir das hoffentlich niemals.
 Keiner von uns hat sich selbst gemacht. Keiner von uns hat sich selbst gebildet und sich hier oder dort geboren sein lassen. Wir sind ja alle aus dieser Lebensquelle, aus diesem wunderbaren Geheimnis, das Gott ist, der hier diese Blumen blühen lässt und dort jene, und niemand kennt seine verborgenen Wege. Lernt man das anzuerkennen, dann befreit es von falscher Selbstermächtigung und Selbstsucht.
 Jetzt sind wir hier zusammen. Und ich mag den Gedanken, dass wir Brüder und Schwestern sind und sein guter Geist unter uns lebt, der uns zusammenhält, der uns segnet und der uns gerne einander verzeihen lässt, wo wir verfehlt haben. Dieses wunderbare, heilige Geheimnis, das manche theologisch und philosophisch zu ergründen versucht haben: der Vater, der Sohn und der Geist. "Drei Kerzen, ein Licht", sagte John Wesley darüber. Der Geist, unser Lehrer und Beistand, weist auf den Sohn. Wie Jesus sagte: Er wird nicht aus sich selbst reden, sondern was er hört, und er wird den Sohn verherrlichen (Joh 16,12-15). Und der Sohn, unser Bruder und Herr, weist auf den Vater, wie er sagte: Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen (Joh 17,3).
 Er hat uns versöhnt mit Gott und dafür sein ganzes Leben hingegeben.
Wir sind frei!
 Amen.

 Er setzte sich wieder und sie sangen wieder.
 Als sie später die Gemeinde verließen, sagte eine Schwester zur anderen:
 "Das war aber eine lange Andacht."
 "Ja", sagte die andere, löste ihren Dutt, schüttelte ihr Haar aus und streckte ihr Gesicht der warmen Sonne entgegen.

Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.
 (Jesaja 50,4)

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