Diese Narben

 Da ist ein Mädchen mit zerschnittenen Armen und Handgelenken. Eigentlich ist es eine junge Frau, doch wenn man sie sieht, denkt man an ein Mädchen. Sie sitzt, dick und aufgedunsen, wie ein Kind da, das die Erwachsenen dazu ermahnt haben, über seine Fehler nachzudenken und erst wieder aus dem Zimmer zu kommen, wenn es einsichtig geworden ist. So sitzt sie da, als geschähen ihr die Dinge einfach, als gleite die Welt an ihr vorbei und sie denkt sich: Was ist denn passiert?, und versteht nichts und hat keine Ahnung von der Welt und vom Leben. Und ehe sie in einem Augenblick etwas erkennen kann, ist`s schon vorüber und die nächste Wahrnehmung ist schon da und schwer genug zu ertragen. So runtergedrosselt auf die Gegenwart, dass alles überraschend und verwunderlich ist, und die Erinnerungen sind trübe und unwahr und mit Schmerz in die Arme gezeichnet, um die eigene Realität noch zu fühlen, und die Erwartungen machen tiefe Angst.
In die Arme sind breite Narben eingegraben und leicht ist man versucht zu denken, das sei die ganze Geschichte eines Menschen. Du bist irgendwann durchgedreht oder warst vielleicht immerschon krank, von Natur aus, schlechte Vererbung oder ein böses Erlebnis, asoziale Eltern, die immer nur gequalmt und gesoffen haben oder einfach nur zu viel Fernsehen und zu wenig Fantasie. Und jetzt hockst du da und versuchst, dich von Serien und Filmen in eine andere Welt entführen zu lassen, doch du siehst nur flache bewegte Bilder und hörst irgendein Gerede. Und du fühlst dich nicht wohl in deiner Haut, würdest sie dir am liebsten vom Körper schneiden, wenn der Arzt die Empfindung nicht durch Medikamente minimiert hätte. Doch nun schmeckt das Essen fad und alles ist dir taub und neblig, die Nebenwirkungen sind die Krankheit, die sie behandeln sollen, man müsste lachen, wenn es nicht so traurig wäre; aber es ist so traurig. Du stehst morgens auf wegen der Tagesstruktur und weißt eigentlich gar nicht, warum, und was du im Badezimmerspiegel siehst, kannst du kaum aushalten, nur, wenn du es ignorierst und du das eigentlich nicht bist; da bist du dir ja ohnehin nicht so sicher. Schaust du aus dem Fenster, dann siehst du den hässlichen kleinen Vorgarten, ein brauner Unkrautteppich, auf dem lange scharfe Halme wie Gitterstäbe oder die Stacheln einer Fallgrube hochragen, und keiner kümmert sich darum. Beim Zaun hört deine Welt bereits auf, dahinter ist eine andere, in der Menschen ihr Leben leben. Genauer hört sie schon an deinem Fenster auf, das du mit deinem Atem beschlägst, und eigentlich schon auf deiner Haut. Du kommst über dich selbst nicht hinweg und das ist eigentlich die Krankheit.
Und wenn ich sie so sehe und sie ein verlegenes "Tschüss" erwidert, dann denke ich, dass ich ihr gerne sagen würde, dass dies alles nur ein Missverständnis sei. Dass irgendwas, irgendwer sie gekränkt habe und sie hat es missverstanden und geglaubt, das sei die ganze Geschichte eines Menschen. Sie sei unwert und werde nicht geliebt und alle haben sie verlassen oder werden sie verlassen, und sie sei hässlich und abstoßend und keiner kann sie ertragen. Und wer sie erträgt und gut zu ihr ist, der ist verdächtig und kann es letztlich nicht wirklich so meinen. Ich will ihr sagen, dass es nicht wahr sei, dass sie wertvoll ist und geliebt wird, nicht verlassen und nicht verloren ist, und dass sie schön ist und Menschen es gut mit ihr meinen.
Und ich denke, dass ich ihr gerne sagen würde, dass dies alles vorbeigehen wird. Dass diese Narben vergehen werden und dieser ganze Leib weggenommen wird und sie wird einen neuen Leib und neue Haut bekommen, als ziehe sie ein frisches, schönes Kleid an. Und dass sie wie in einen klaren Himmel sehen wird, als seien die dunklen Wolken abgezogen, und sie wird riechen und schmecken und fühlen, als sei es das erste Mal und alles wird sie überwältigen, so schön ist es. Da wird sie endlich bei sich selbst ankommen, das Ebenbild Gottes, und wird keine Angst mehr haben.
Und dann denke ich, dass es nicht meine Aufgabe, geschweige mein Recht ist (zumal ungefragt und vielleicht ist ja alles ganz anders), und ich hoffe, sie versteht mich ohne Worte. 


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