Eine Geschichte

 Der Weg ging etwas aufwärts. Er führte durch wirre Schneewehen in die Nacht oder was sie für die Nacht hielten, denn sie hatten ein wenig die Zeit verloren auf der weiten Strecke. Jedenfalls war alles um sie dunkel, und wären die Schneedecken auf den Äckern und den kahlen Bäumen nicht gewesen, und ein paar graue Risse in den Wolken, wo noch irgendein Licht durchdrang, es wäre wohl alles schwarz gewesen. So aber, durch das Wirrwarr aus Schnee und Wind und Kälte, gingen die Geschwister schwerfällig, einen Fuß vor den andern in den knarrenden Boden, und wollten sich eigentlich an den Händen halten, um sich zu fühlen und sich nicht zu verlieren, doch so kamen sie noch schlechter voran. Also ging jeder für sich, der Bruder etwas vorweg und die Schwester hinterher, und er vergewisserte sich alle paar Meter, ob er hinter sich noch die eingeschneiten Schultern und den dampfenden Atem sah. Sie war aber da und hielt Schritt, wenn er auch manchmal glaubte, unter dem Heulen des Windes ihr Keuchen zu hören, so erleichterte es ihn doch. Und er schaute in das Dunkel vor sich und dachte, es sei nicht mehr weit, die Augen und Wangen schmerzten vom Frost und die Finger in den Wollstulpen waren taub und steif, und wenn er sich mit der Faust die Feuchtigkeit aus dem Gesicht wischte, war es, als sei es gar nicht seine Hand, gar nicht sein Arm, sondern ein toter Stamm, der von der Elle ab an ihm baumelte. Die Eltern waren arm, hatten die beiden ältesten Kinder auf den Weg zur Tante geschickt, die sich ihrer annehmen sollte, weil sie nicht mehr für alle sorgen konnten, und hatten ihn und seine Schwester zwar in mehrere Decken, Schals und Stulpen gehüllt, dass sie wie zwei Büffel aussahen, doch drangen der eisige Wind und der Schnee durch die alten und schlechten Stoffe, und es half nichts.
Ob die Tante sie aufnehmen werde, dachte er sich und versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl sei. Ob sie wohl gut sei und auch so gütige Augen habe wie ihre Schwester, seine Mutter, oder ob sie streng und hart sei und sie alle Arbeit machen lassen und sie schlagen werde. Alldas wusste er aus den Worten seiner Mutter nicht. Sie hatte zuletzt nur in der Tür gestanden, ihnen Beutel mit etwas Brot in die Hände gedrückt und sie geküsst und gesagt: "Jetzt geht zur Tante und bittet um Gnade bei ihr, um Christi Willen", und erst geweint, als die Kinder sich nicht mehr nach ihr umsahen. Und als sie ein Stück gegangen waren, hatte die Schwester als erstes gefragt:
"Kennst du den Weg?"
"Wir müssen nur den Straßen und Schildern folgen", hatte er gesagt, und wie er mit festem Schritt vorangegangen war und bei jeder Holztafel an Wegbiegungen zuversichtlich genickt hatte, war sie hinter ihm gewesen und vertraute ihm auch jetzt, wo er die Anhöhe vor ihr her stieg, mit seinen eingeschneiten Schultern, und sie Schritt hielt, dass nur der Schnee und der Wind zwischen ihnen seien und sonst nichts. Und wie er sich alle paar Meter umschaute, um sie zu sehen, nickte sie ihm immer zu und sagte durch den dicken Schal, es sei alles gut und sie sei noch da. Sie hätte gerne seine Hand genommen, um ihn zu fühlen, und glaubte noch, von vor einigen Stunden und tausenden Metern, seine Hände seien stark und warm; ihre froren immer mehr ein. Und sie versuchte zu träumen, wie ihr die Mutter mal gesagt hatte: "Wenn alles schwer wird, müssen wir an schöne Dinge denken", und dachte an eine warme Stube und den Geruch von brennenden Kerzen, Schalen mit Nüssen und Äpfeln und Birnen auf dem Schränkchen, ein Topf mit Kartoffeln und Kohl dampft auf dem Tisch und die Mutter bringt Braten herein und der Vater sitzt frei am Kopfende, ohne die Krücke für sein gelähmtes Bein. Und ihre Geschwister sitzen in der Bank mit roten Wangen und leuchtenden Augen, und ihr geliebter Bruder wird aus dem Evangelium vorlesen und sie werden singen. Im Kamin knistert ein Feuer und in der Ecke steht eine schöne Holzkrippe mit Maria und Josef und den Hirten, die das Jesuskind umstehen, ein Esel und ein Rind und Schafe, und vom Dach schweift ein Engel herauf, der die frohe Botschaft verkündet.
"Jetzt ist es nicht mehr weit!", sagte er laut, als er sich zu ihr umsah.
Die Schneewehen nahmen unmögliche Formen an. Wie aufgetürmte Gestalten, die um sie herumtanzten und lange weite Mäntel im Tanz mit sich warfen. Hinter ihnen, in der Dunkelheit, schimmerten schwache Lichter und er schaute und dachte, es sei nun nicht mehr weit. Er sah sich zu seiner Schwester um und sorgte sich um sie, doch sie war da und er glaubte, sie nicken zu sehen, als wolle sie ihm sagen, es sei alles gut. Und sie sah zu ihm auf und sorgte sich um ihn, wie er sich gegen die Böen krümmte, doch glaubte sie ihn sagen zu hören, es sei jetzt nicht mehr weit.
Es war nicht mehr weit. Als sie an die Tür klopften, schien aus den Fenstern noch Licht und der Geruch von Essen stieg ihnen entgegen und sie meinten, drinnen Gesang zu hören. Die Tür wurde geöffnet und da stand ihre Mutter und sagte: "Da seid ihr ja!", und nahm ihnen die durchfrorenen Beutel ab, umarmte und küsste sie und sie gingen hinein und ihnen war bald wieder warm und alles andere vergessen.

Das war irgendwann an einem vierundzwanzigsten Dezember.

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