Deine Hände

Wenn ich an Dich denke, dann denke ich an ausgebreitete Arme am Fuße einer Treppe.
Wir liefen aus unseren Zimmern oder wo wir waren, wenn es an der Tür klingelte, die Treppe hinab und Du beugtest dich an die Stufen und öffnetest die Arme und wir riefen: "Opa!"
Und wenn ich an Dich denke, dann denke ich an Deine Stimme, wie Du gesprochen, wie Du gebetet hast. Wenn Du zu Besuch warst, war es klar, dass vor dem Essen gebetet wird; das taten wir sonst nicht immer. Deine Gebete sprechen Millionen Menschen auf der Welt auch, aber wie Du sie gebetet hast, daran denke ich. Und Deine Worte, gute Worte, kein böses kam je über Deine Lippen, und man will meinen, so wie Du warst, es kam auch kein böser Gedanke in Deinen Geist. "Lieber Unrecht erdulden, als Unrecht tun", hast Du gesagt. Du hast das alles gesehen: die Menschen mit ihrem Treiben, ihren Geschäften und Sorgen und Ängsten, und warst selbst längst darüber hinaus, nicht von dieser Welt. Sorgen kanntest Du wohl, doch um uns, nicht um Dich selbst.
Und wenn ich an Dich denke, dann denke ich daran, wie Du gestanden und gesessen hast, kerzengerade und unnachlässig, aber seelenruhig und ohne Anstrengung, eine alte Schule, die es heute nicht mehr gibt. Und hast Dir alles Gute dieser Schule bewahrt, alles Schlechte verworfen. Gerade, aufrichtig und unnachgiebig gegen Dich selbst, aber nachsichtig und verständnisvoll gegen andere, ohne dieses nostalgische und gelogene "Früher war alles besser!", ohne dieses "Ich habe..." und "Ich musste..."; das hattest Du nicht nötig. Du wusstest immer, dass Jetzt die Zeit ist und dass alles, was war, zu dem führte, was ist, ein stiller göttlicher Plan, den wir vor lauter Lärm und Blendung weder hören noch sehen. Und wo Du warst, war eine tiefe Ruhe.
Und wenn ich an Dich denke, dann denke ich an Deine Hände, diese alten gütigen Hände, die Du mir entgegengestreckt hast und hast gesagt: "Komm her zu mir!" Und dann haben wir gelesen und Du hast es mir erklärt und ich weiß nicht mehr, was Du mir damals gesagt hast. Nur, dass es gut war und dass ich mehr mit Dir hätte reden sollen, dass ich mehr mit Dir hätte reden wollen.
Und manchmal vermiss` ich Dich so! Und wenn wir beide nicht wüssten, dass wir uns einmal wiedersehen werden, und das glauben würden, dann wäre es ja schlimm. Aber wir wissen es ja.

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