Tiger
Wann
immer ich daran zurückdenke,
wie er
gestorben ist, mischen sich Bedrückung und Faszination in meinem
Innern, und lassen diese längst vergangene, unwirkliche Begegnung in
meinem Geist neu geschehen. Unwirklich, nicht etwa, weil die
Erinnerung nachgelassen hätte, sondern weil es eine solche Erfahrung
war, die vielmehr tief im Wesen, im Blut stattfindet, als dass sie
vor einem abläuft. Dies
macht sie zwar direkter und intensiver, doch weniger durchdacht und
schlechter erinnerbar, kennt man es doch von dergleichen Erlebnissen,
die eben im Blut stattfinden und nicht im Kopf, wonach der Mensch
doch immer sucht, was ihn in Abenteuer und Betten schickt, und wenn
sie geschehen sind und er heraussteigt, weiß er gar nicht mehr,
warum er sich eigentlich hineingestürzt hat, als
nur für diesen Moment im Blut.
So ist das, so war das, ja...
Und
immer, wenn ich zurückdenke, gleiten meine Finger über das Andenken
um meinen Hals, das- glatt wie ein Handschmeichler- an einem
schwarzen Band unter meinem Kehlkopf gezurrt ist. Längst
ein Talisman über Leben und Tod, groß und unübersehbar, doch er
hätte nicht auf einen Schreibtisch oder in ein Regal gehört;
sondern dort, auf der Luftröhre, da gehört er hin. Es ist ein Zahn,
sein
Zahn. Ich habe ihn damals rausgeschnitten und mitgenommen,
wahrscheinlich, um auch etwas für Außen zu haben, nicht nur das
Innere, das Feuer im Blut, welches so schnell verblasst, wenn man
wieder munter am gedeckten Tisch sitzt. Etwas
zum Fühlen, für die Sinne, das einen erinnert, und wenn man sich
erinnert, das man eben fühlen kann. Bis es wieder innen angelangt,
im Blut...
Damals
trampelte ich durch dichtes, leuchtend grünes Blätterwerk,
Pflegehelfer eines
Hilfswerkes im tiefsten bengalischen Dschungel, in einem Dorf namens
Aporasi. Der Transporter war etwas außerhalb abgestellt, da das
Gelände zum Dorf zu unwegsam gewesen war, und man hatte mich
losgeschickt, um
Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel zu holen. Das erste Stück
blieb ich auf dem schmalen Feldweg, der zwischen Wald und hüfthoher
Getreidewand hindurchführte, und dessen rostfarbene Erde bei jedem
Schritt kleine Staubwolken die Knöchel hochpustete. An
das Klima hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt und so schleppte
ich mich, eher wie ein nasser Sack denn wie ein Mensch, mit der
missmutigen Erinnerung, wie lang der Weg vom Transporter zum Dorf
gedauert hatte; eine mit
Rucksäcken, Koffern und Kanistern bepackte Karawane
aus Mitteleuropäern, feuchte Bleichgesichter, die von allen Seiten
durch Fliegen und Mücken attackiert und angezapft worden waren. Da
hatte sich die Angriffsfläche auf Mehrere
verteilt, hier war nur ich, ein schwitzender Magnet für dieses
Luftvolk, wie den Motten das
Licht.
Ich
beschloss, die langgestreckte Kurve zum
Wagen direkt durch den Wald zu schneiden in der festen Überzeugung,
ich müsse einfach nur geradeaus gehen. Der
Wald war ein echter Wald, nicht wie zuhause, ein Ur-Wald, wo die
Natur noch dem Menschen Gott war und nicht umgekehrt, ein dunkles
Reich, doch durch die Lichtschneisen im Blätterdach und die
Feuchtigkeit der Luft intensiv grün, eine Welt der Baghiras, Balus
und Moglis, voller Geister
und Geschichten. Blätter,
groß wie Tennisschläger, rieben quietschend an mir entlang und
peitschten hinter mir zusammen, Lianen und Gestrüpp streiften mein
Gesicht, und das dicke
Wurzelwerk ließ mich über einen Teppich aus Laub und Ästen
stolpern. Aus jeder Richtung knackte, zirpte, heulte oder krähte
etwas, wie hätte es auch anders sein sollen, und als ich mich umsah,
um vielleicht doch zurückzugehen, auf den Weg, da war es hinter mir
wie vor mir: nichts als Wald, Urwald. Ich
hielt inne und lauschte in die Umgebung, aus der natürlich kein Laut
kam, wenn man es hören wollte, sondern erst, als ich mich wieder
entspannte, knirschte es im Gehölz. Schlangen,
Spinnen, alles, was man hier vermutete, schoss mir durch den Kopf,
beförderte meinen Puls und ließ mein Herz in der Brust pochen, als
würde mir jetzt erst klar, wo ich eigentlich war. Meine
Einbildung ließ das Grün noch enger und eindringlicher werden, zog
ihm die frische Farbe aus, sodass es fahl und bedrohlich auf mich
zuwuchs. Ich
wollte nicht auf sie warten, auf diese ganzen Wesen, die hier
wohnten, also setzte ich meinen Weg fort, glaubend, ich hätte bisher
grade Spur gehalten. Ich ging schneller als zuvor, die
Trägheit war der Fantasie dieses Ortes gewichen, und ich musste
achtgeben, im Dickicht nicht umzuknicken oder zu stürzen. Als ich
durch zwei große Blättertüren,
die wie Schmetterlingsflügel geformt waren, hindurchstieß, glitt
etwas haariges, fasriges in mein Gesicht, wie Federn, oder eben wie
ein Netz... Ich pustete erschrocken los, schlug hektisch um mich und
fuhr mir mehrfach durch Gesicht und Haare, mit
diesem Gefühl, das man dann hat, es
sei irgendwo noch etwas, in den Wimpern, den Augenbrauen, den Ohren,
der Nase, am Nacken oder im T-Shirt. Nachdem
ich mich wieder etwas besonnen hatte, erkannte ich, dass der Wald
sich gelichtet hatte. Ich stand in einem Oval aus Baumriesen, durch
deren verkeilte Kronen Lichtstrahlen
herabfielen und sich auf Mannshöhe in den Schatten mischten. Der
Platz hatte etwas Seltsames, vielleicht Mystisches,
schön, aber doch...
Mir
dämmerte, dass ich mich verirrt hatte, nach diesen paar Minuten
schon; sicher nicht allzu weit, doch wusste ich nun nicht, wo ich
weitergehen sollte, um nicht noch mehr abzukommen. Da
stand ich nun und versuchte, klare Gedanken zu fassen, das Gesicht
unter Schweiß und Hitze glühend, ein Gemenge aus Juckreiz, Ekel und
Missmut. Meine Augen wanderten den
Rand der Lichtung ab, Baum für Baum, Gebüsch für Gebüsch,
hoffend, vielleicht einen Durchgang zu entdecken, der etwas freier
war als meine bisherige Strecke. Doch schien alles wieder eng und
überwuchert zu sein; ein echter Wald eben. Mein
Blick war unmerklich auf
einem großen dornigen Strauch liegen geblieben, der mit langen
weißen Stacheln in alle Richtungen wies, buchstäblich
hervorstechend. Ein
Wind schien durch die Lichtung zu streifen, denn der Strauch wog hin
und her, beugte sich vor und zurück, zitterte, und verwischte sich
vor meinen müden Augen in einen tanzenden Wechsel aus hellen und
dunklen Dornen, Schatten, Linien, Streifen...
Er
sieht mich an, dachte ich mir. Er sieht mich an und wendet sich mir
zu... Streifen, Streifen, Streifen... Mir wurde kalt, außen. Innen
waren meine Gefäße wie heiße Drähte durch meinen Körper
gespannt. Das Blut, es
brannte wie Feuer. Ich spürte, wie es aus dem Kopf in den Rumpf
wich, hin zu einem Herzen wie ein Hammer. Hier, wo die Natur dem
Menschen noch Gott war und nicht umgekehrt, hier stand er nun und sah
mich an. Zwei leuchtende Bernsteinkränze, die in scharfes Grün
uferten, so durchdringend, als würden sie durch mich hindurchsehen;
bebende Nasenflügel, rosig
und blutriechend, ein leicht geöffnetes Maul, heißen Dampf
ausstoßend, die flache Zunge zwischen zwei Fleischerhaken gewellt,
vom Speichel durchtrieben und pulsierend. All dies in einem
monströsen, von schwarzen
Linien gezeichnetem
Schädel. Der Leib, ein
heller Fels aus reiner Kraft, der Überlebenswille in jede
Muskelfaser eingeboren, mit Streifen, Streifen, Streifen. Die
Beine standen wie Säulen, doch sah man an den riesigen Pranken, die
sich in den Waldboden schmiegten, wie fein und grazil er sein konnte.
Ich war gebannt von dieser schlimmen Schönheit, dieser echten Natur.
Ein
Gedanke drang still aber bestimmt durch das Gemisch aus Faszination
und Lähmung: Das ist dein Ende! Es
war keine Überlegung, was ich jetzt tun sollte, kein Abwägen oder
Umsehen, wie ich entfliehen könnte; es war eine Feststellung, eine
einfache, reine Feststellung, so eine, die den Zwischenraum
übersprungen hat, weil tief im Herzen Etwas weiß, dass alle
Abwägungen und Überlegungen zu der gleichen Ansicht kommen werden.
Was gäbe es denn auch für
Möglichkeiten? Ich hatte ein Messer, aber kämpfen wäre irrsinnig;
fliehen, zurück ins dichte Gestrüpp, wäre ebenfalls sinnlos;
davonschleichen erübrigte
sich, denn er sah mich bereits geradewegs an. Also
stand ich da wie angewurzelt, mit einer Feststellung wie ein
göttliches Gebot. Er wird mich töten, natürlich wird er mich
töten. Ich bebte, wollte die Augen fest zukneifen - vielleicht war
ja doch alles nur eine Illusion, ein Fieber oder dergleichen - aber
konnte meinen Blick nicht von ihm nehmen. Wir fixierten uns
gegenseitig, vermutlich
glänzte ich schweißtriefend in den einfallenden Sonnenstrahlen. Und
wie wir da so waren und uns anschauten, erkannte ich, dass er
tatsächlich durch mich hindurchsah. Seine Augen waren wie Glas. Ich
blinzelte mehrmals und sah genauer hin, traute mich aber zu keiner
Bewegung. Sein Blick - wenn
ich ohne Vorurteile betrachtete, ohne kalte Angst, ohne ein Monster
vor mir zu glauben - schien ebenfalls etwas festzustellen, ebenfalls
den Zwischenraum übersprungen zu haben und zu einer harten, klaren
Einsicht gekommen zu sein. An
der linken Flanke, zwischen den Streifen, klaffte eine tiefe Wunde,
blutrot und bösartig. Er
ist schwer verletzt, dachte ich und
musste gegen das Gefühl an mich halten, ihn nun als harmloser
einzuschätzen. Und doch, sehr
allmählich, weichte die Feststellung meines sicheren Todes etwas auf
und machte den Möglichkeiten Platz. Vielleicht kann
ich doch fliehen. Der Mensch ist ein Hoffnungstier, und je mehr sich
dieser Gedanke aufdrang, desto konzentrierter starrte ich ihn an,
versuchte, alle Möglichkeiten, all seine
Möglichkeiten, im Voraus zu erwägen. Dann
senkte er seinen Kopf und kam auf mich zu. Mein Herz blieb einen
Moment lang stehen und
setzte dann mit einem derart heftigen Schlag wieder ein, dass es
wehtat, als wolle es mich unter allen Umständen am Leben erhalten,
damit er mich töten konnte. Ich
war sicher, er spürte es, mein Herz, durch den Waldboden in seinen
Pranken. Jetzt wollte ich nur noch rennen, aber ich konnte nicht; ich
war versteinert. Kurz vor
mir, sein gurgelnder Atem war unüberhörbar, kam er wieder zum
Stehen und legte sich dann auf den Boden, drehte sich zur Seite weg,
wie man es von Kleinkatzen auch kannte. Er
atmete schwer in den mächtigen Rumpf, in diese schlimme Verletzung.
Irgendein Tier musste ihm einen gewaltigen Hieb verpasst haben,
vielleicht ein Bulle mit
seinem Horn. Ich verfolgte
das Heben und Senken seines Bauchs, das von einem flüssigen Rasseln
begleitet wurde. Sein Blick
war von mir abgewichen und ging ins Dickicht. Etwas
Versöhnliches war darin, eine Akzeptanz, eine Hingabe in ein
unsichtbares Gesetz, kurz:
etwas, das der Mensch nicht hat. Eine
Ruhe ging von ihm aus, die meine Lähmung löste.
Die Atmung wurde flacher, es
klang, als würde man mit einem Strohhalm den letzten Rest aus einem
Glas heraussaugen. Ich
kam langsam an ihn heran, hockte mich neben ihn und blieb. Nach
einer Weile traute ich mich, die Hand auf seine Schulter zu legen,
dessen Muskeln unter meinen Fingern spannten. Dann
starb er, friedlich, einig
mit dem Tod, der in seine Knochen ging, weil er gelebt hatte, und in
jeder Sekunde das gewesen
war, was er von Natur her
war, ein Tiger, ein Tiger.
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