Ich bleibe liegen

Abends im Bett liebte er die Stille, die lediglich vom Umblättern der Seiten unterbrochen wurde, wenn seine Frau ein Buch las, was sie eigentlich jeden Abend tat. Er hatte schonmal darüber nachgedacht, ob er die Stille ansich liebte, oder vielmehr dieses Umblättern, doch es war sicher beides gemeinsam, ja, es war beides gemeinsam. Es war eine Stille von Anwesenheit, etwas ganz Besonderes, wenn man den ganzen Tag das Dröhnen von Maschinen im Ohr hatte. Keine einsame Stille, wie von diesen Paaren, die sich nichts mehr zu sagen haben, die einander überdrüssig geworden sind, oder sich gar schon hassen, aber weiter Gewohnheiten pflegen; nein, eine schöne Stille, bei der, würde einer von ihnen zu sprechen beginnen, die Stimme so klar und eingehend klingen würde, wie Gespräche in der Dämmerung auf der Terrasse, als hätte dieser Raum gar keine Decke, sondern würde direkt ins Sternenzelt spähen. So war nämlich auch dieses Umblättern der Seiten, das sie so bedächtig tat, es füllte den ganzen Raum, ließ ihn, wenn er schon einnickte, immer wieder ein wenig erwachen und dann tiefer in den Schlummer sinken. Auf den letzten Zeilen nahm sie das Blatt schon zwischen die Finger, hielt ein, blieb an den letzten Worten, als wolle sie nur ja beim Umschlagen den Sinn des Satzes nicht verlieren, und blätterte dann ganz langsam auf die nächste Seite. Hatte sie genug gelesen, wog sie das Buch noch einen Augenblick in den Händen, strich über den Deckel und betrachtete das Cover. Er wusste es, auch wenn er an diesem Punkt meist bereits eingeschlafen war.
Das liebte er. Die Stille, die es nur mit ihr gab, das Umblättern der Seiten, und seine Gedanken hinter geschlossenen Augen, diese letzten, die immer langsamer wurden, sodass man sie fast einzeln anschauen konnte wie Edelsteine, bevor sie in den Schlaf wegdunkelten.
Dann war er auf ihren Wanderungen in den Wäldern und Bergen im Süden, die sie durchzogen und bezwungen hatten, stand mit ihr im rauhen Sand, den die Ostsee unter ihren Sohlen wegspülte, dass man einsank, mit diesem Geruch von Salz in der Nase und der Lake auf der Haut. Sie hatte die Wälder und Berge lieber, den Duft von Nadelbäumen und den weiten Blick in die Täler, in welche die Wolken unter der Mittagssonne dunkle Flecken pinselten; ihm lag der Norden mehr, das weite Land und der Horizont, wo der Himmel und das Meer wie zwei Arten von Wassern zusammenschmolzen, oder wie zwei Arten von Himmeln.
Dann baute er mit Erik Modellflugzeuge und diese dreidimensionalen Puzzle, an denen sie wochenlang gesessen und auf die sie geschimpft hatten, und schließlich sich selbst gefeiert, wenn sie es endlich vollbracht hatten. Erik hatte immer bis zum Schluss durchgehalten und nie die Lust verloren, wie es ja vorkam bei Kindern, wenn Etwas Ausdauer und Geduld erforderte. So manches Mal hatte er ihn vom Sofa gezogen, um das Puzzle weiterzumachen, immerschon zielstrebig und ehrgeizig und ein guter Junge.
Dann war er mit seinen alten Freunden auf ein Bier beim "Gruber", als man drinnen noch rauchen durfte, in diesem Nebel, durch den die Lichter der Spielautomaten hindurchflimmerten, die alle paar Minuten einen hupenden Jingle abspulten, und neben denen gelegentlich Einer lehnte und irgendwas drückte, mit ernstem Blick, als sei er ein Experte für dieses hochkomplexe System. Die Typen standen dort immer gleich, den rechten Arm an den Automaten gestützt und die linke Hand in die Hüfte gestemmt, und kam mal ein Mädchen herein, zogen sie sogar den Bauch ein.
Dann saß er auf Balkonen und Terrassen von Verwandten, lachte und stritt mit ihnen über Gott und die Welt und das Leben, bis in die Dämmerung, wenn die Stimmen klar und eingehend klangen und alles intimer wirkte in den Worten, in den Bewegungen, in der Beleuchtung, der Dunkelheit, der Stille.
Er seufzte in den Duft der frischen Bettwäsche hinein und wusste, dass sie jetzt zu ihm blickte, diese wachen und aufrichtigen Augen, in denen tief innen immer etwas Sorge durchschimmerte.
"Morgen bleibe ich liegen", sagte er und lächelte leicht. Sie erwiderte nichts, sondern strich nur über seinen Arm und blätterte dann die Seite um. Dann schlief er ein, tief.

"Du bist ganz grau. Richard? Richard?"
Die Morgensonne stand im Zimmer, glänzte durch die Profile der halb geöffneten Rollladen, in deren Lichtbahnen man jedes Staubkorn schweben sehen konnte, die wild herumwirbelten, wenn man mit der Hand hindurchfuhr. Je nachdem, wie das Licht fiel, leuchteten sie wie goldene Steinchen, wie Edelsteine.

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