Narziss 2000

Es klingt so kitschig und abgedroschen, jene Sätze und Lieder, die die Liebe preisen und sie zur größten Kraft von allen erklären. Dieser romantisch bis religiös anmutende Begriff ist längst eingestaubt und klärt schon lange nicht mehr, was wirklich in neuronalen Schaltkreisen oder sozialen Interaktionen stattfindet, meinen einige. Längst haben wir erkannt, was wesentlich ist, um Menschen und Gesellschaften harmonisch zu strukturieren, längst sind wir „aufgeklärt“, wenn auch diese Aufklärung bei einigen Primitiven noch nicht angekommen ist, aber gut Ding will schließlich Weile haben, nicht wahr?!
Wir haben uns zu Tode aufgeklärt. Die gläserne Welt, die wir uns errichtet haben, lässt kaum noch die Möglichkeit eigener Bereiche, die nur einem selbst gehören, und wir scheinen in jener prophezeiten, kontrollierten Sphäre angekommen zu sein, in der eine Art „Neusprech“ eingeübt wird. Es scheint, als blieben wirklich nur noch die eigenen Gedanken als Raum für Abgründe und Widersprüche übrig, doch selbst diese geben wir schnell dem Flutlicht preis, denn der Mensch tut, was er lernt und kennen-lernt. Es gibt kaum noch Abgründe und Verborgenheiten, die der Mensch im Stillen mit Gott und seinem Gewissen ausfechten müsste; man steht nicht vor Gott und Gewissen, sondern vor den Augen anderer Menschen, und auf eine perverse Art und Weise gefällt uns das. Die mediale Vernetzung tut ihr Übriges, wir sind in Warhols Vision angekommen: In Zukunft wird jeder für 15 Minuten weltberühmt sein.“1 Talent ist vollkommen egal, das Netz und die Medien sind für alle da, und je ärmer die Beiträge sind, desto mehr Zuschauer erhalten sie. Zugleich erleidet man aber auch den Fluch, den jede Berühmtheit kennt: so, wie man geliebt wird, auch gehasst zu werden. Der Narzissmus ist ein böses Gift! Nichts ist bitterer, als bei Leuten Liebe zu suchen, für die man letztlich vollkommen belanglos ist. Das Paradoxon ist, dass man immer selbstverliebter wird, aber sich immer weniger lieben kann, doch diese Psychologie ist nicht neu. Das Individuum- welches so wichtig geworden ist- liebt sich nicht wegen sich selbst, sondern wegen anderen, das war immer so. Nun sind das Gegenüber keine Menschen mehr, sondern ein unsichtbarer, kommentierender Mob oder eine jubelnde Masse. Es gibt dort keine Liebe; jeder professionelle Künstler weiß das, oder musste es zumindest schmerzlich lernen. 
 
Das Geheimnis, das den Menschen auszeichnet, wird immer mehr aufgelöst und die Abziehbilder, die dadurch übrigbleiben, sind eine ständige Anklage an die eigene Wahrheit. Da man mit sich selbst immer weniger anzufangen weiß- denn dazu müsste es ein reiches Innenleben geben- verlagert man den Prozess ans Äußerliche, schneidet und gestaltet an sich rum, um wenigstens dort eine sichtliche Entwicklung vorzeigen zu können. Der Mensch ist sein Körper, und was er nicht im Inneren vollzieht, das wird er im Äußeren vollziehen. Der letzte Rest Persönlichkeit wird mit „Weisheiten für jeden Tag“ gefüttert, die man nach 10 Minuten wieder vergessen hat, doch dann sagen kann, der unbewegliche Wesenskern sei sogar spirituell. Der Konflikt extrovertiert mit und lässt den Menschen in irgendwelchen Novemberstimmungen rotieren, die dann damit relativiert werden, dass man sagt, das habe es immer schon gegeben, aber heute könne man dazu stehen. Und das tut man auch ganz selbstbewusst: wenn man nicht schon als Säugling mit Syndromen tapeziert wird, dann doch spätestens nach den ersten Widerworten in der Grundschule; warum sollten nur die Erwachsenen Störungen haben? Während sich so zunehmend der Bezug zur eigenen Natur und zur Mitwelt abbaut, bleiben nur Darstellungen vorhanden, möglichst glatt und symmetrisch, ohne rauhe Haut und ohne Falten. Man wird so selbst sein größter Feind und Hasser, denn Selbsterkenntnis hat noch nie im Spiegel stattgefunden, sondern immer nur mit geschlossenen Augen. 
 
Schließt man sie, schaut man irgendwann die Triebfeder des ganzen Ringens um Selbsterhaltung und Anerkennung: Angst. Sich in einer Welt vorfindend, die jederzeit ohne ihn weiterlaufen könnte, die ihn nicht braucht, fragt und sucht der Mensch, was er in eben dieser Welt eigentlich soll; das ist die existentielle Frage. Die Angst, nicht anerkannt und geliebt zu werden, die Angst, verloren zu gehen, treibt wackelige Gemüter dahin, sich überall Zuspruch zu holen, und wenn er für die Aussage ist, dass man „seinen eigenen Weg gehe“ oder „seine eigene Meinung habe“. So abgedroschen wie die ganzen Selbstoffenbarungen können die klassischen Liebestexte niemals sein. Das Irrige ist, dass man sich einer Welt ausliefert, in der tatsächlich alle belanglos gleich sind; der „eigene Stil“, die „eigene Art und Weise“, der „eigene Lebensweg“, sind Massenware geworden. Aus der Reihe zu tanzen oder auf die Wirkung des Skandals zu setzen ist heute unnötig, denn das tun alle. Es erregt wohl am meisten Aufsehen, wenn man ganz bürgerlich, durchschnittlich und konservativ ist. Früher musste man rechtfertigen, warum man alte Strukturen durchbrechen wollte, heute muss man rechtfertigen, warum man sich auf alte Werte beruft. Es mag gerecht sein: der Freigeist rächt sich nun für die lange Haft durch alte Sitten und Traditionen. Doch leider rächt er sich nicht an den alten Herrschaften, sondern an den Kindern. 
 
Während die große, weite Welt, von der man damals träumte, immer kleiner wird und alle miteinander vernetzt sind, wird der Mensch immer einsamer. Der Grund ist simpel: man muss keinen Weg mehr zurücklegen, um sich zu begegnen! Trafen sich früher zwei Reisende auf ihren Lebenswegen, so hatten sie einander etwas zu berichten- und wenn es nur die bisherige Route war- heute fotografiert man sein Müsli oder postet, dass einem bei 33°C heiß sei, um es mit der ganzen Welt zu „teilen“. Es gibt keine Geschichten, keine Wunder, keine Fantasie mehr. Man ist buchstäblich nur noch mit sich selbst beschäftigt, und komplett durchleuchtet, gehen all die tiefen und auch dunklen Räume verloren, die man Charakter nennt. Den Menschen als Geheimnis, als etwas Wundersames zu sehen, das man kennenlernen und begreifen lernen will- sowohl in sich selbst, als auch in anderen- geht immer mehr verloren, ersetzt durch aneinandergereihte Bilder und Kommentare. Es interessiert mehr, was mit uns stattfindet, und nicht, was zwischen uns stattfindet.
Das aber ist es, was den Menschen ausmacht: das Geheimnis, die unsichtbaren Dinge zwischen uns, der göttliche Funken, die Liebe- nicht als Romanze, sondern als Hingabe an das unzulängliche Wesen, das man eben nur lieben oder verachten kann- und die Widersprüchlichkeit; all diese Dinge, die man nicht „liken“ oder „disliken“ kann, sondern die man nur mit Langmut und Leidenschaft ertragen und achten kann. Vielleicht will ja gut Ding Weile haben, nicht wahr?!



1Warhol photo exhibition, Stockholm, 1968: Kaplan, Justin (Hrsg.), Bartlett's Familiar Quotations, 16. Ausgabe, 1992 (Little, Brown & Co.), S. 758:17

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