Trostbrief an mich selbst

 


Du magst dich manchmal fragen, was aus dieser Welt geworden ist. Und so verständlich und gestattet diese Frage auch ist, so muss man sich doch eingestehen, dass sie oft mehr aus Einbildungen herrührt denn aus einer nüchternen Betrachtung, mehr aus Emotion denn aus Analyse. Oder nicht? Je mehr den Menschen die Gegenwart bedrängt und die Zukunft ängstigt, desto mehr wird er geneigt, das Zurückliegende zu verklären. Wir sind zurückblickende Wesen, sehr oft zumindest. Man sollte sich nicht selbst täuschen. Bewahrte Erinnerungen sind etwas wundervolles, teures, unschätzbares, doch eine frühere Zeit anzupreisen ist wohl eher Verblendung. Und dabei ist doch nichts wichtiger, gerade in solchen Zeiten, als sich nicht blenden zu lassen, weder von anderen, noch von sich selbst.

Denn wenn du dich blenden lässt und einer schönen Zeit nachweinst wie einer verstorbenen Geliebten, dann leistest du der jetzigen, ach so schlechten Zeit keinen Widerstand, sondern du bist ihr ins Netz gegangen und wickelst dich immer fester ein, je mehr du dich windest und sträubst. War sie denn je anders, die Welt? Wir schauen gerade einer Epoche beim Sterben zu, eine neue wird kommen. Weltgeschichtlich gesehen ist das ein Wimpernschlag, der letzte Lidschlag liegt gerade mal neunzig, zweihundert, dreihundert, fünfhundert, tausend, zweitausend Jahre zurück ... 

Diese Sichtweise helfe nicht, magst du denken. Recht erkannt. Es ist die Sichtweise von Ideologen, von Theoretikern, es ist die Sichtweise von Regenten, die Geschichte schreiben wollen, jenen, die dich und so viele andere nun bedrücken. Dennoch aber gehört es dazu, dies zu sehen und anzuerkennen, denn man trauert eben nicht schöneren Zeiten nach, sondern man vermisst die Zeit, in der man seine vermeintliche Ruhe hatte, in der es einen nichts anging. Auf der ganzen Welt haben wir doch Entbehrung und Unterjochung ertragen, solange sie uns nicht einschränkten. Nun, da wir betroffen sind, fällt es vielen schwer einzusehen, dass all die Selbstverständlichkeiten nur Kredite waren, dass alle Selbstverständlichkeit ein Irrtum ist. Dieses Anrecht, das der Mensch qua Geburt zu besitzen meint, ist ein Ideal, welches so lange lebendig ist, wie Menschen sich ihm verpflichtet fühlen und es stützen und verteidigen. Unweigerlich aber ändert sich mit der Auffassung dessen, was der Mensch sei, auch das Verständnis dieses Anrechts. Wie unbekümmert konnten wir nicken und feststellen, es werden sich viele Dinge verändern, nicht wahr? Wir sind gerade mitten drin. Sollte etwa jemand verwundert sein, jemand besorgt, jemand erschrocken, jemand geängstigt?

Dass du dich aber ängstigst, das wünsche ich nicht! Ich wünsche vielmehr dir Hoffnung zu geben, den Gebeugten aufzurichten, dem Ermüdeten neuen Atem einzuhauchen, dem Verirrten den Blick zu lenken, dem dunklen Gemüt das Licht zu entzünden. Nicht selten kehren Menschenkinder wieder zu ihrer Heimat zurück, wenn sie eine zeitlang auf verworrenen Pfaden, auf unwegsamem Gelände, auf Abwegen waren, verlaufen, entfernt, verirrt, verloren. Und deine Heimat, Menschensohn, ist in deinem Geiste, in dem dein Glaube lebt. Kehre um, komme nach Hause!

Denn dem, dem du verbunden bist, gehst du auf keinem Pfade verloren, kommst du auf keinem Wege abhanden, solange du glaubst und weißt, dass er in deinem Herzen wohnt. Denn dein Bürgerrecht geben dir nicht die Menschen, nicht die Gesetze, nicht die Ideale, so edel sie auch einmal gefasst worden sind und sich an diesem göttlichen Vorbild orientiert haben mögen. Das mag sich alles ändern, die Gesinnung des Menschen ist manchmal wie eine Flagge im Wind. Was erschrickst du da, jetzt daran erinnert zu werden, dass dies hier nicht deine Heimat ist?

Gott sei deine Heimat. Sowohl hier auf Erden, wo alldies - der Himmel und das ewige Leben - unsichtbar und nur deinem Herzen eingeschrieben ist, als auch dann einmal, wenn du mit deinen Augen sehen wirst. Und alles Anrecht, das dir gegeben ist, stammt aus der Ebenbildlichkeit Gottes, nicht aus der Philosophie der Menschen darüber, was der Mensch sei. Alldas mag sich ändern, was der Mensch sich ersinnt und versucht, und sei es in bester Absicht, doch was ich bin und habe, was mir gegeben, was mir genommen, was mir zugestanden und was mir entledigt werden kann, was mir Freiheit gibt und was mich gefangennimmt, das weiß letztlich nur mein Vater allein.

Ist nun alles hinzunehmen, weil es nunmal so ist, wie es ist, weil es der Weltenlauf ist, der Lidschlag des Auges, und ist nichts zu sagen, nicht zu widersprechen, nicht zu trotzen, nicht zu kämpfen? Keineswegs, doch du musst darauf gefasst sein, dass jene Regenten, die man so oft adressiert und ersucht, dir nicht helfen werden. Das mag je nach Situation und Sachlage unterschiedlich sein, doch das jetzige Bild zeichnet sich mit sehr deutlichen Linien ab, sagten ja von ihnen selbst welche, dass die Welt nachher nicht mehr dieselbe sein werde und wir einander viel zu verzeihen haben werden. Das ist wohl wahr. Ob wir das dann tun, ist eine andere Frage. Sie glauben, sie wüssten, welches Ziel sie verfolgen und hätten es in ihrer Obhut, was sie damit bewirken und was sie hervorbringen, doch das wissen sie nicht. Und wie unser geliebter Herr damals sprach: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!, so war seither schon einige Male über den Menschen auszusprechen und ist es auch heute.

Ich sehe bislang nicht, dass von dort Hilfe kommen würde, dass sich Besonnenheit durchsetzen würde und Klarheit leitend sein würde. Denn schaue doch, was den kritischen Stimmen geschieht und jenen, die mit dieser Lage anders umgehen wollen: sie werden schlichtweg ignoriert oder gar öffentlich bloßgestellt. In einer Stadt wurde gar ein Denunziantenformular angedacht, mit dem man andere melden kann, die sich nicht an die Regeln halten. In einer anderen wurde Eltern angedroht, dass das Jugendamt die Kinder hole, wenn diese nicht angemessen in Quarantäne gehalten werden können. Und die Regierungschefin hielt nicht für nötig, ihrem Volk mitzuteilen, dass es solch ein Vorgehen in unserem Land nicht gebe, weil es gegen Grundrechte und Grundwerte verstoße, und vor allem bar jeglicher Verhältnismäßigkeit sei. Das ist bitter. Wir zeigen in lauter Geschäften und Einrichtungen medizinische Informationen vor, als sei es selbstverständlich, unsere Wege und Termine sind registriert und nachvollziehbar, alldas beginnt so langsam normal zu werden. Es gibt keine Verpflichtung, aber man ist genötigt, weil niemand das bezahlen kann, und jene glauben es auch noch selbst, wenn sie es in der Öffentlichkeit der Bevölkerung so sagen. Ja, das ist bitter. Menschen können in ihrem Betrieb arbeiten, aber zur Mitarbeiterfeier können sie nicht gehen. Väter müssen anfragen, um bei der Geburt ihrer Kinder dabeisein zu können, zur Einschulung muss man einen Nachweis vorzeigen - in einem Land, in dem Schulpflicht herrscht - und die Kinder werden in dies alles hineingeboren und darin groß, und werden alledem, was später einmal kommen wird, kaum noch etwas erwidern. Ja, das ist bitter.

Und damit sind wir bei der eigentlichen Sorge, nicht wahr? Denn deine Sorge gilt nicht dir selbst, sondern deinen Kindern. Nicht, dass ihnen vielleicht mal etwas widerfahren könnte, sie vielleicht mal ein Unglück treffe; das mag schonmal geschehen im Leben und das werden sie meistern. Nein, sondern das ist deine größte Angst, dass sie einmal bitter werden, und da ist nichts, was du so sehr fürchtest, als dass Verbitterung sie verblendet. 

Sei getrost, Menschensohn, denn der, von dem du alles hast, Atem und Leben, Wegweisung und Recht, Heimat, Lehre und Licht, Liebe und Barmherzigkeit, Begabung und Segen, Vergebung, Erkenntnis und Gnade, selbst wenn die Ideale der Menschen zerfallen, dieser hat auch deinen Kindern das alles verheißen. Und du weißt aus vielen Jahren Erfahrung, dass keine Macht und keine Gewalt uns Söhne und Töchter zu trennen vermag vom Geliebten. Er, der Heilige, der Erhabene, der Hingebungsvolle, der Wunder-Rat, und welche schönen Namen er noch tragen mag, er ist unser Friede!

Und deshalb lohnt es zu kämpfen, mit Frieden im Herzen, gegen die Verbitterung. Denn gegen die Verbitterung vermag man nur mit Frieden und Zuversicht anzutreten. Und das ist dein Kampf, den Menschen Hoffnung zu geben, die Gebeugten aufzurichten, die Ermüdeten durchatmen zu lassen, den Verirrten den Blick zu lenken, den dunklen Gemütern ein Licht zu sein und den Traurigen ein Trost. Denn das ist der Kampf, den wir, denen der Glaube gegeben ist, immer zu führen hatten und zu führen haben: nicht etwa gegen weltliche Mächte, sondern gegen Geister, gegen Gesinnung, gegen Heuchelei, gegen schlechte Lehre und Wegweisung, gegen Missmut, Hader und Bitterkeit.

Deinen Verdruss kenne ich wohl, doch ist es dir nicht gegeben, dich niederzusetzen und zu ermatten, sondern du hast dich zu wappnen und auf das Feld hinauszutreten und alle Anfechter zu parieren, bis sie fallen.  

In alledem bleibe aufrichtig und bedenke, dass du irren kannst und es vielleicht einfach nur schwere Zeiten sind. 

S.   


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