Wunder



Ein sehr netter Mann. Mit einem echten Interesse an Menschen und an ihren Geschichten, wie man es sich bei einem guten Moderator vorstellte. Sonja hatte mit ihm Monate vor der Sendung telefoniert, ihm kurz ihre Geschichte erzählt, und vor der Aufzeichnung hatte er sich ebenfalls etwas mit ihr unterhalten, ihr grob den Ablauf erklärt und ihr gesagt, dass sie als Letzte drankomme, als Abschluss der Talkrunde. Er hielt es immer so, war nahbar und sympathisch, wie seine Sendung, ohne Probe und ohne viel Aufhebens. Sie sagte ihm, dass sie etwas nervös sei und er lächelte sie an: "Das machen Sie schon, meine Liebe. Wenn Sie dran sind, dann sagen Sie es einfach: Ich bin etwas nervös!, und alle Gäste und auch ich werden freundlich und verständnisvoll nicken und sagen, das sei gar kein Problem, und dann geht´s Ihnen schon gleich besser." Er klopfte ihr sacht auf die Schulter und ordnete seine Karten, zum gefühlten zehnten Mal. Vielleicht war auch er immernoch aufgeregt vor einer Sendung, obwohl seine Talkshow fast schon zu den Klassikern zählte.

 Es war eigentlich sehr simpel gewesen: der Sender hatte um Menschen geworben, die eine Geschichte zum Thema Wundersame und mysteriöse Erlebnisse berichten konnten, und Sonja hatte sich gemeldet. Die eingesendeten Storys kamen sozusagen in ein Casting, man prüfte, was passend war und was nicht, und sicher auch, was es schon gegeben hatte, denn es war bei weitem nicht seine erste Sendung zu solchen Themen. Sie wurde also ausgewählt, mitsamt vier anderen Bewerbern, und das persönliche Telefonat vorab war eine Eigenheit von ihm, zumindest bei Laien. Nach dem Telefonat hatte Sonja aus Interesse nochmal seinen Namen gegoogelt und unter all den Videos, Beiträgen und Fotos, die vor ihr ausgerollt wurden wie rote Teppiche, auch gefunden, dass er einst Psychologie studiert hatte. Ohne genau zu wissen, warum, fragte sie sich, ob er alldas, was sie und andere dort erzählen würden, vielleicht nur für Hirngespinste halten werde, ob diese Freundlichkeit vielleicht doch nur Professionalität war. Sie fragte sich, ob solche Sendungen und Themen einfach nur den Einschaltquoten geschuldet waren, weil die Leute sowas schauten, weil sie etwas anderes hören wollten als das Alltägliche, weil sie Wundersames, Mysteriöses, Verrücktes erfahren mochten und wundersame, mysteriöse und verrückte Menschen sehen wollten. Und natürlich war dem so, aber sie wollte ihre Geschichte erzählen. Außerdem hätte sie vor wenigen Jahren noch selbst da gesessen, als Zuschauerin in der Sendung oder vor dem Fernseher, hätte die Einschaltquote verändert, hätte mit Interesse Geschichten gehört, mal was Wundersames, mal was anderes als das Alltägliche, und hätte sich darüber amüsiert.

 Sonja hatte sich niemals ernsthaft etwas aus diesen Dingen gemacht, religiös und spirituell unmusikalisch, wie man so sagt. Sie hatte ein durchschnittliches Leben geführt, mit durchschnittlichem Werdegang, durchschnittlichem Abschluss und durchschnittlichen Erlebnissen. Ein blondes Mädchen mit hellen Augen, einer rundlichen Figur und einem hübschen Gesicht, immerzu erwartungsvoll, ob noch irgendwas Besonderes in ihrem Leben passiere, ob es noch irgendeine Überraschung für sie gäbe. Papas Prinzessin, die man nur schwer befriedigen konnte und die immer etwas gelangweilt wirkte. Oberflächliche Freundschaften in Cliquen, wo man an Badeseen Alkohol trank und über Äußerlichkeiten redete, eine beste Freundin, die in regelmäßigen Intervallen beste Freundin und nicht mehr beste Freundin war, mit Herzchen und Kussmundselfies, Partnerschaften ohne Tiefe und Verbundenheit, die man ab und an wieder aufwärmte, weil man sich ja doch "ganz gut" fand, Gedanken ohne Fantasie und ein zugleich erwartungsvoller wie desillusionierter Blick im Spiegelbild. Der Großteil der Energie und Kreativität wurde in die Körperpflege investiert, Kämmen, Schminken, Rasieren, Eincremen, Tönen, Färben, Entfernen, Ankleben, Abdecken, und so weiter. Selbst wenn sie noch in T-Shirt und Jogginghose gewesen war, Gesicht und Haare waren stets fertig. In der Ausbildung und der Arbeit als Bankkauffrau hatte sich ihr Charakter etwas geformt, hatte auch mal etwas anderes als sich selbst in den Blick genommen, doch drohte es allzubald eine Maske zu werden, eine Professionalität ... Es blieben letztlich die Langeweile, die Oberflächlichkeiten, die Ausschau nach Befriedigungen und, an seltenen Abenden, die schmerzliche Erkenntnis der Einsamkeit. Und dann weinte sie und verstand nicht, warum dies alles so war und verstand nicht, warum sie das nicht verstand, und weinte noch mehr, bis sie irgendwann einschlief. Am nächsten Morgen wachte sie dann mit geschwollenen Augen und Kopfschmerzen auf.

 Und mit der Zeit wachte sie immer öfter mit Kopfschmerzen auf, auch wenn sie den Abend zuvor nicht geweint hatte. Und dann kamen die Kopfschmerzen auch tagsüber, was ihr immer seltsamer wurde, denn sie neigte eigentlich nicht dazu, außer wenn sie mal am Wochenende zu viel gefeiert und getrunken hatte. Auch war der Kater nach dem Feiern immer gleich, diese Kopfschmerzen aber veränderten sich, sie waren raumfordernd, hüllten sie ein wie eine Wolke und wurden dann hart und schwer wie Stein, und sie glaubte, zermalmt zu werden.

 Als sie ein Kundengespräch hatte abbrechen müssen und die üblichen Mittel nicht mehr halfen, war sie zu ihrem Hausarzt gegangen. Der hielt Sonja erstmal mit einer Sammlung an Eventualitäten hin, die zahlreichen Gründe, warum junge Frauen Kopfschmerzen haben können: "Und dann schauen wir mal ..." Sie kam bald wieder und machte ihm klar, dass es nicht gehe und dass sie nicht mal schauen könnten. Da wurde er ernst: "Gut, Frau Brahms, ich habe verstanden." Sie bekam eine Überweisung, den Anruf machte er selbst, damit sie schneller einen Termin bekam. Und sie hatte ihre Untersuchung ...

 "Und es wurde dann ein Hirntumor festgestellt." sagte der Moderator. 

 "Ja." bestätigte Sonja, die die Sorge und Anteilnahme der Zuschauer und Gäste auf sich gezogen hatte.

 "Wir haben die Unterlagen hier, Sie haben sie uns zukommen lassen ... bösartig, inoperabel ..." las der Moderator stichwortartig, fast abwesend, mit dem Blick auf seinen Karten.

 "Ja genau." Ihr taten diese Worte nicht mehr weh, aber sie hatte noch in lebhafter Erinnerung, wie sie an jenem Tag wie Dolchstöße auf sie niedergegangen waren. 

 "Da muss Ihre ganze Welt zusammengebrochen sein."

 "Ja, das kann man wohl sagen. Das war auch alles so unwirklich. Ich habe einfach nur gedacht: Nein, das kann nicht sein! Die werden nochmal eine Untersuchung machen und dann wird alles ganz anders sein, dann stimmte das alles nicht." Der Moderator nickte verständnisvoll. Die Frau, die Sonja gegenübersaß, hatte die Augen geschlossen und die Handflächen nach oben gerichtet; sie war eine selbsternannte Schamanin, die mit Heilsteinen und Klangschalen arbeitete. Neben ihr saß eine schweizerische Ghostwhisperin, die seit dem Tod ihrer Oma mit den Verstorbenen kommunizieren konnte. Daneben Gunther, der Gefühle "sehen" konnte, aber nicht wirklich hatte erläutern können, was das genau bedeuten sollte. Gabi, die neben Sonja saß, hatte eine Rückführung gehabt, die sich als Albtraum herausgestellt hatte, und als Extragast war ein Psychiater in der Runde, der jede Geschichte auf Nachfragen des Moderators etwas kommentierte; ein Experte, wofür auch immer, der die Seriosität der Sendung sicherstellte. 

 "Was hat der Arzt gesagt? Was für Möglichkeiten gab es?" fragte der Moderator weiter.

 "Bestrahlung war das einzige, was da noch ging. Er sagte aber direkt, dass das nur ein Versuch sei und dass das eine sehr harte Zeit für mich werden würde."

 "Hatten Sie den Eindruck, dass der Arzt selbst noch Hoffnung für Sie hatte? Oder hat er Ihnen durch die Blume eigentlich gesagt, dass es aussichtslos sei?"

 "Hm, gute Frage. Ich glaube eher, dass er keine große Hoffnung hatte. Aber versuchen muss man es ja, was soll man sonst machen? Man hat ja bei so einer Diagnose auch nichts mehr zu verlieren." Der Moderator nickte wieder und sah sie eindringlich an. 

 "Ja, ja, das stimmt wohl ..." sein Blick glitt kurz zur Seite, er überlegte, "Wie haben Ihre Eltern reagiert? Haben Sie sie direkt informiert?"

 "Nein, dazu kam es gar nicht. Ich war erstmal total durcheinander und bin aus der Klinik raus und in der Stadt herumgelaufen."

 "In Köln war das."

 "Ja genau."

 "Und dort sind Sie dann jemandem begegnet. Erzählen Sie uns davon."

 Sonja hielt kurz inne, wirkte etwas verloren und sortierte ihre Gedanken, während sie auf den dunklen Filzboden starrte. 

 "Ich bin zum Hauptbahnhof zurückgefahren, mit der Bahn, und bin dann auf den Domplatz."

 "Was wollten Sie machen?"

 "Ich weiß es nicht. Ich musste ja sowieso zum Hauptbahnhof, um wieder nach Hause zu fahren, und als ich dort war, ging ich einfach auf den Domplatz. Ich weiß nicht mehr, was ich machen wollte. Ich war vollkommen durcheinander."

 "Ja, verständlich." sagte der Moderator, mehr zu sich selbst denn zu ihr. 

 "Ich habe mich dann auf eine Bank gesetzt und war einfach nur vollkommen fertig. Ich dachte einerseits, ich habe gerade mein Todesurteil bekommen, und andererseits dachte ich immer wieder, dass das nicht wahr sein kann. Ich dachte, das ist ein Albtraum und bald wache ich wieder auf."

 "Ich stelle mir diesen Domplatz voller Menschen vor und dass Sie sich total verloren gefühlt haben müssen."

 "Ja, das haben Sie gut ausgedrückt, so war es auch. Es war auch viel los. Es war schönes Wetter, viele Leute, Musiker und Straßenmaler und sowas."

 "Haben Sie sich manchmal umgesehen? Ob Sie vielleicht jemand sieht?" Sonja schaute ihn verblüfft an. 

 "Ja, ja, das habe ich. Und da habe ich ihn dann gesehen. Er stand auf dem Platz und hat mich angeschaut."

 "Wie sah er aus?" hakte der Moderator wieder ein und Sonja lächelte leicht.

 "Hübsch. Er wirkte sehr jung ... aber irgendwie auch nicht, ich weiß nicht. Er hatte blonde Haare und dunkle Augen und hat mich ganz direkt angesehen ... und ja, er kam dann auf mich zu und setzte sich neben mich auf die Bank."

 "Wie haben Sie reagiert?"

 "Ich habe ihn einfach nur angeschaut. Ich wusste nicht, was ich machen oder sagen sollte. Außerdem war es irgendwie angenehm. Es wurde irgendwie alles ganz still in mir. Er sagte dann: Hat dich noch nie jemand gesegnet? Und dann hat er meine Stirn berührt, nur so ganz leicht, und dann ist er aufgestanden und gegangen." Sonja schaute durch die Runde. Die Schamanin lächelte, die Geisterseherin blickte ständig hin und her, als fühle sie sich unwohl oder sehe wieder Gespenster, Gunther fixierte Sonja mit zusammengekniffenen Augen und gepressten Lippen, Gabi betrachtete sie nachdenklich und der Psychiater nickte sachte, den Zeigefinger ans Kinn gelegt. 

 "Was haben Sie gemacht?" fragte der Moderator.

 "Nichts. Ich habe einfach nur dagesessen. Es war alles total still in mir, ich kann das nicht beschreiben. Ich habe ihm einfach nur hinterhergeschaut."

 "Haben Sie nicht gedacht: Was war denn das für einer?"

 "Nein."

 "Haben Sie irgendwas gespürt, als er Sie berührt hat?" Sonja durchsuchte kurz ihre Erinnerung.

 "Nein, also nichts Besonderes. Einfach nur diese Stille." Der Moderator nickte nachdenklich.

 "Die Stille ist das, was Sie am meisten berührt hat an dieser Begegnung, nicht wahr?"

 "Ja." bestätigte Sonja und ihre Augen wurden glasig. 

 "Ja ... Was folgte dann? Was haben Sie gemacht? Sie wollten nach Hause. Sie hatten eine furchtbare Diagnose bekommen und mussten ja Ihren Eltern noch davon erzählen, nicht wahr?"

 "Ja, also ... ich habe noch eine Weile da gesessen, auf der Bank. Und irgendwann bin ich dann aufgestanden und zum Bahnhof gegangen und nach Hause gefahren. Dann bin ich duschen gegangen und dann draußen spazierengegangen."

 "Spazieren?"

 "Ja, einfach nur spazieren. Wir haben so ein kleines Wäldchen in der Nähe, da bin ich spazierengegangen." Sonja strahlte den Moderator an.

 "Wie haben Sie sich gefühlt?"

 "Gut. Ich hatte eine unglaubliche Ruhe in mir. Es tut mir leid, ich kann es nicht weiter beschreiben. Es war einfach seit dieser Begegnung alles total ruhig in mir."

 "Haben Sie über den Hirntumor nachgedacht? Über die weiteren Tage und die Behandlung?"

 "Ja natürlich. Ich habe darüber nachgedacht. Aber ich hatte keine Angst mehr."

 "Sind Sie in einem religiösen Elternhaus aufgewachsen?"

 "Nein, gar nicht, überhaupt nicht. Also da war auch nix, was die Begegnung irgendwie ... getriggert hätte oder wie man so sagt ... nix." beteuerte Sonja und fragte sich, warum sie eigentlich so beteuerte. Sie atmete tief ein und versuchte, sich zu entspannen. Sie merkte, dass sie doch aufgeregter war als sie anfangs dachte und erinnerte sich an den Rat des Moderators kurz vor der Sendung:

 "Entschuldigung, ich bin ein bisschen nervös!" sagte sie und räusperte sich verlegen und nahm einen hastigen Schluck Wasser aus ihrem Glas. Sie nestelte zwischen ihren Händen herum, glitt mit einer Fingerkuppe über den Nagellack der anderen Finger. Das beruhigte sie immer. Im Dunkel des Publikums, das die Runde umringte, machte sie verständnisvolle und gespannte Gesichter aus. Die Schamanin grinste sie aufrichtig und zutraulich an, die Geisterseherin suchte immernoch ihre Schwingungen, Gunther durchbohrte sie, Gabi hatte sich ihr interessiert zugeneigt und der Experte verharrte seit Minuten unbewegt in derselben Haltung. Der Moderator lächelte leicht und fuhr dann fort:

 "Ich frage das, weil mich interessiert, wie Sie diese Begegnung und dieses Gefühl für sich eingeordnet haben. Da kommt ein Fremder und segnet Sie, und Sie fühlen sich danach deutlich besser. In welche Schublade haben Sie das gesteckt?"

 "In gar keine. Ich habe das einfach so angenommen." erwiderte sie. Er nickte wieder. 

 "Haben Sie oft an ihn denken müssen?"

 "Ja, ständig." Sonja lächelte trotz aller Nervosität so befreit und entwaffnend, dass der Moderator sie einen Moment lang fasziniert betrachtete. Er mochte sie. Er mochte ihr rundes Gesicht, ihre hellen Augen, ihre Unschuld, die sie sich irgendwie bewahrt hatte. Er mochte es, dass sie in keine Schubladen steckte, sondern es einfach so nahm wie es ist. Er mochte dieses entwaffnende Lächeln; sie glich damit ein wenig seiner Tochter damals in Jugendjahren, wenn sie "Ach Papa!" gesagt und ihn angestrahlt hatte.

 "Wie ging es weiter, Frau Brahms? Haben Sie Ihren Eltern dann erzählt, was los ist?"

 "Ja klar. Meine Mama hatte mir mittlerweile auch ganz viele Nachrichten geschickt. Ich habe sie dann angerufen und alles erzählt."

 "Auch von der Begegnung mit dem jungen Mann?"

 "Ja. Und dass ich mich gut fühle. Aber sie waren natürlich geschockt. Meine Mama weinte am Telefon." Sonja schaute auf ihre Hände hinunter und lächelte sacht in sich hinein, immernoch voller Mitgefühl bei dem Gedanken an ihre weinende Mutter. 

 "Ja, eine schlimme Nachricht. Auch für die Eltern schrecklich."

 "Ja, das stimmt."

 "Was geschah dann, Frau Brahms?" Sie atmete tief ein und ihr Lächeln wurde wieder heller. 

 "Ja, dann kam der nächste Termin in Köln zur Besprechung und Kontrolle. Der Arzt hat mich dann gefragt, wie es mir geht und ob ich seit dem letzten Mal Beschwerden gehabt hätte. Ich habe ihm dann gesagt, dass es mir super geht. Ja, und dann wurde nochmal ein CT gemacht, weil er schauen wollte, ob sich inzwischen was verändert hat."

 "Und?"

 "Nichts. Es war kein Tumor mehr da. Er sagte, das kann nicht sein und dann musste ich nochmal ins MRT und da war auch nichts. Und als er mir das sagte, da wurde es in mir wieder so vollkommen ruhig und ich wusste, dass es vorbei war. Ich wusste, dass ich geheilt war."

 "Wie hat der Arzt die Sache eingeschätzt?" fragte der Moderator.

 "Er war total durcheinander." sagte Sonja lachend. "Er konnte sich das nicht erklären und hat mir dann einen Kontrolltermin gegeben, damit man später nochmal nachschaut. Ich wusste aber, dass da nichts mehr ist."

 "Haben Sie den Kontrolltermin wahrgenommen?"

 "Ja, alle beide. Ich hatte danach nochmal eine Kontrolle. Er sagte dann: Tja, Frau Brahms, ich weiß nicht, wie das möglich ist, aber Sie sind geheilt, es ist nichts zu sehen! Er hat sich dann total schön verabschiedet und gesagt, er wünscht mir ein langes und glückliches Leben."

 "Ja ..." der Moderator verlor sich kurz in seinen Gedanken, sein silbernes Brillengestell blitzte im Scheinwerferlicht des Studios. Dann fuhr er fort: "Frau Brahms, wie hat sich Ihr Leben seither verändert?" Sonja leuchtete über das ganze Gesicht:

 "Es hat sich alles verändert!" Die Schamanin bedachte sie mit einem freudigen Blick, die Geisterseherin wirkte enttäuscht, Gabi und der Psychiater waren ihr weiterhin interessiert zugetan und Gunther sagte mit seiner tiefen Stimme: "Ja, jetzt kann ich es sehen!"

 "Ich bin an diesem Tag dann einmal durch Köln gelaufen, über den Domplatz und in die Fußgängerzone, weil ich schauen wollte, ob ich ihn vielleicht irgendwo sehe. Habe ich natürlich nicht."

 "Was glauben Sie, wer er war?"

 "Das weiß ich nicht. Vielleicht ein Engel. Ich weiß nur, dass es von ihm kam oder durch ihn ..." antwortete Sonja.

 "Nochmal allgemeiner gefragt: Was glauben Sie? Solche Erlebnisse verändern ja oft ein gesamtes Weltbild. Woran glauben Sie? Was für ein Weltbild steht dahinter?"

 "Ich glaube, dass Gott es war, der mich geheilt hat. Er hat es wohl gut mit mir gemeint. Ich verstehe von diesen Sachen nicht so viel, ich lerne das auch erst seitdem kennen. Ich lese jetzt viel und versuche, es zu verstehen, wenn das überhaupt geht. Ich bin eigentlich einfach nur dankbar! Dankbar für das Leben, das mir geschenkt wurde."

 "Frau Brahms, sollen wir das nicht als Schlusswort stehenlassen? Eine Begegnung, ein Segen und ein neues Leben. Ich möchte es wie der Arzt machen: Ich freue mich für Sie - und ich glaube, alle anderen hier auch - und ich wünsche Ihnen ein langes, gesundes und glückliches Leben." Sonja strahlte wieder und ihr Dank an den Moderator ging im Applaus des Publikums unter. Er lächelte sie liebevoll an und wandte sich dann dem Psychiater zu:

 "Dr. Feibig, es gibt ja sogenannte Spontanremissionen. Wir haben alle Nachweise von Frau Brahms bekommen, die Diagnose und alle Kontrolltermine ... Und eigentlich ist man, wenn man so eine Geschichte hört, versucht zu sagen: Jetzt komm mir nicht mit Spontanremission!" Der Psychiater lachte nickend. 

 "Ja nun, ich bin natürlich kein Fachmann. Ich bin kein Onkologe und auch kein Neurochirurg, aber was die Spontanremission angeht, so ist es eben das einzige, was wir wissenschaftlich dazu sagen können. Spontanremission bedeutet, dass ein Krankheitsbild sich ohne Zutun medizinischer und therapeutischer Interventionen reduziert oder ganz verschwindet; also kurz und knackig: Es ist von ganz allein geheilt. Wir können in der Medizin nichts anderes dazu sagen. Ich freue mich auch für Sie, Frau Brahms, und die Deutung dieses Geschehens und dieser Heilung gehört ganz allein Ihnen, das kann Ihnen niemand nehmen. Wissenschaftlich kommt das Wunder nunmal nicht vor, weil es keine wissenschaftliche Kategorie ist. Und Sie merken ja selbst, Herr Faber", er wandte sich wieder dem Moderator zu, "dass man bei der Ausdeutung solcher Phänomene sehr schnell in andere Bereiche kommt, zu denen die Medizin nunmal nichts sagen kann. Wir können es nur möglichst sachlich als Phänomene betrachten und das trägt uns halt manchmal den Vorwurf ein, wir würden das nicht ernstnehmen." Ein Kameramann zeigte dem Moderator Joachim Faber die Zeit an. Er nickte. 

 "Meine Verehrten, wir sind leider am Ende unserer Zeit angelangt. Ich danke Ihnen für Ihr wertes Interesse und die Treue, und bedanke mich ganz herzlich bei unseren Gästen heute Abend: Frau Clarissa Hein, Frau Mandy Schergle, Herr Gunther Finner, Frau Gabi Schweigmann, Dr. Matthias Feibig und natürlich Frau Sonja Brahms." Sie saß direkt neben ihm und er drückte kurz ihre Hand auf der Armlehne und lächelte sie an. Um sie herum rauschte der Applaus wie Wellen am Strand.

Spätabends zuhause nickte er still der Pflegerin zu, die dann leise den Raum verließ, und setzte sich an das Bett seiner komatösen Tochter. Die Pflegerin hatte sie etwas seitlich gelagert und ihr schönes, blasses Gesicht ruhte auf dem Kissen. Sie lag seit drei Jahren so. Bei einem Autounfall hatte sie ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten und hatte sich tief und regungslos in ihrem Körper verborgen. Stufe IV mit unklarer Prognose, sagten die Ärzte, und seither waren Pflegekräfte und Therapeuten um sie bemüht, sie wieder fühlen zu lassen, sie wieder riechen und schmecken zu lassen, sie wieder hören zu lassen, sie wieder sehen zu lassen, sie wieder zu erwecken. Ihr damaliger Freund Arne hatte anfangs tapfer durchgehalten und ihren Eltern versichert, er werde nicht von ihrer Seite weichen. Nach anderthalb Jahren aber hatte er verzweifelt aufgegeben, mit zuviel Schamgefühl, um sich nochmal bei ihnen zu melden, denn er hatte eine andere Frau kennengelernt. Die Eltern hatten bald alles in die Wege geleitet, um ihr Kind nach Hause zu holen, damit sie in vertrauter Umgebung betreut werden konnte. Er hatte sein Büro in den Jahren mit Fachliteratur gefüllt, mit allem erdenklichen, was er nur finden konnte, und zwischen all dieser Wissenschaft verstreut lagen spirituelle und religiöse Bücher, in denen er irgendeinen Sinn zu finden hoffte.

 Joachim Faber streichelte ihre Wange und legte die Hand auf die ihre, betrachtete sie lächelnd und barg dann sein Gesicht in der Hand und begann zu weinen. "Ach Saskia ..." Auf den Familienfotos, die auf ihrem Nachttisch standen, lächelte sie ihm zu, aus einer Zeit voller Leben.

 

Mein Herr, manchmal bin ich untröstlich über das Leid der Menschen, was sie durchmachen müssen, was sie entbehren müssen; ganz unabhängig davon, worin sie vielleicht verfehlt haben in ihrem Leben. Ich bin manchmal verwundert über Deine Wege, was Du gibst, was Du nimmst, wen Du beschenkst und wen Du verwundest, wen Du segnest und wen Du heimsuchst. 

 Ich bin oft bitter, dass so viele Menschen Dich nicht kennen, Dich nicht suchen, so verirrt und verloren sind auf ihren Wegen. Ich bin manchmal erbost über die Verführer und Betrüger, die die Menschen in die Irre leiten. 

 Ich bin manchmal so erschöpft. Und ich weiß nicht, warum Du mir diese Gabe gegeben hast, warum Du mich sehen lässt, was ich sehe, warum Du mich tun lässt, was ich tue, warum Du mir diesen Segen und diese Bürde zugewiesen hast. 

 Aber ich habe gelernt, aus Deiner Hand zu nehmen und mir daran genügen zu lassen, dass Du voller Gnade bist und voller Liebe für Deine Kinder. Und ich will treu aushalten und gehen, wohin Du mich führst, bis mein Tag kommt und mein Dienst vollendet ist.

Der junge Mann klappte das Notizbüchlein zu, in das er dieses Gebet geschrieben hatte, steckte es in die Innentasche seiner Jacke, erhob sich von der Bank und ging weiter an der Rheinpromenade entlang. 



Kommentare

Beliebte Posts