Wunderbares Geheimnis

"Dieser Mensch", begann der Doktor, "ist nur eine unverstandene Chiffre in dem Buch der Weissagung, das der Welt eine große Freude verkündet. Das Buch will verstanden sein. [...]
(Johann Peter Hebel, Spaziergang an den See, 1820)


Der Mensch ist ein chiffriertes System, ein Geheimnis, dessen Wert darin besteht, dass es unauslotbar bleibt und in seinen Tiefen immer nur dort etwas zu erkennen ist, wo man gerade die Fackel hinhält. An Modellen und Theorien haben wir alles abgegrast, da kommt nichts neues mehr - auch Gedankengänge kommen irgendwann an ihr Ende und dann wiederholt man nur noch mit unterschiedlichen Begriffen.
 Wir sehen ihn aus Erde und Atem belebt durch Gott. Wir sahen ihn zusammengebaut aus göttlichen und animalischen Elementen. Wir ermittelten ihn aus der Evolution erwacht und emporgestiegen, oder meinten ihn durch Unwissenheit und Anhaftung sich zusammenballend und formend, sich zersetzend und wieder vergehend.
 Wir haben mit der Welt begonnen, um ihn zu erklären, wir haben mit ihm begonnen, um die Welt zu erklären. Wir haben ihn mit Erbsünde verdorben, um ihn dort wieder herauszukasteien. Wir haben ihn gänzlich schuldfrei gesprochen, dass er gar keine Verantwortung mehr habe, sondern nur noch ein gerittener Esel sei. Wir haben ihn mit Dämonen besetzt, die man ihm austreiben muss, und ihn für Dinge schuldig gesprochen, an denen er gar nicht beteiligt gewesen war oder an denen er beteiligt sein werden wird, kurz: Karma.
 Wir haben seine Natur schlecht genannt und abgetrennt vom Geist. Wir haben ihm empfohlen, der Welt zu entsagen, sich selbst Schmerzen zuzufügen und sich zu hassen. Wir haben ihm verordnet, dass er nicht fühlen darf, was er fühlt, nicht denken darf, was er denkt, nicht sein soll, was er ist. Wir haben ihm geboten, wen er lieben darf und wen er hassen soll, und ob seine Liebe und Zuneigung überhaupt richtig ist.
 Wir haben ihn in seine Stoffe und Teile zerlegt, in seine Symptome und Areale, um dann festzustellen, dass er ein zusammenwirkendes System ist, ein Geflecht aus Beziehungen. Wir haben ihn berechnet, in Gleichungen und Algorithmen aufgelöst, wir haben ihn überfüttert, abgelenkt und verunsichert, damit er träge und gehorsam wird. Wir haben ihn auf Ansichten verpflichtet, die gar nicht seine eigenen sind, ihn in Blut, Rasse und Nation gleichgeschaltet und zum Vernichten ausgebildet, zum Selbstvernichten.
 Wir haben ihn geliebt. Wir haben ihn unter Schmerzen geboren und an der Brust gestillt. Wir haben ihn auf unseren Händen getragen, wir haben ihn in die Arme geschlossen. Wir haben an seinem Bett Wache gehalten, wir haben Sorge gehabt. Wir haben ihn gelehrt, was wir selber zu wissen glauben, und einen Weg gewiesen. Wir haben echtes Interesse an seiner Entwicklung gehabt, haben seine Gaben und Fähigkeiten gesehen, seine Kreativität und Begeisterung, seine Güte, Opferbereitschaft und Hingabe. Wir haben ihn gepflegt, ihn zu Grabe getragen, um ihn getrauert und ihn vermisst. Wir sind in seine Tiefen und Abgründe eingetaucht, seine Leidenschaften und Bindungen, seine Schönheit und Sinnlichkeit, seine Finsternis und Destruktivität, sein einzigartiges, unveräußerliches Wesen, das wunderbare Geheimnis.

Das ist der Mensch: das so gewordene Wesen. Geboren, aus Gutem und Bösem zusammengeflochten, unwissend und unschuldig, mit aller Möglichkeit zu lernen, zu erkennen, zu lieben, sich zu formen, Weg zu bahnen und erfüllt zu werden, wenn er geliebt und gefördert wird. 
 Das ist das Leben: der so gegangene Weg, die Schule des Charakters, mit allem Guten und allem Schlechten. Er ist nicht verdammt, hier oder dort zu enden. Aber stellen muss er sich, in sich blicken und nichts mehr verlagern auf Teufel, Dämonen oder andere Menschen, Hirten, Befehlshaber oder Regenten. Sondern das ist Lernen, echte Bildung und Selbstliebe, dass man ernsthaft in sich schaut, Gedanken und Gefühle ausmacht, tief nachsinnt, Erfahrungen sammelt, das Gute bewahrt, Sinnlichkeit genießt, für Leib, Seele und Geist verantwortlich ist und dankbar für alles. Und wo Erkenntnis ist, da wird Liebe.
 Und der Gott, den man ehrt? Ist er ein guter Geist, ist ihm an der Freiheit, Bildung, Erfüllung und Erlösung seiner Kinder gelegen, an Erkenntnis, tiefer Liebe und Beziehung, dann bewahre ihn. Ist ihm an Unterwerfung, blindem Gehorsam, Zerstörung und Ausrottung gelegen, an Angst, Erniedrigung und Kränkung, dann lass ihn.
 Auch das ist zu erkennen, tief ins Herz des Menschen geschrieben. Ein wunderbares, unergründliches Geheimnis. 




  

Kommentare

Beliebte Posts