Das Firmament



Er ging an einen stillen Ort. Ungewöhnlich, verließ er nachts das Haus, hatte seine Frau und seinen kleinen Sohn, der so hübsch war wie sie, eine Zeit lang betrachtet, wie sie schliefen, ruhig und tief, war aus dem Zimmer geschlichen, im Dunkeln mehrmals irgendwo angestoßen, hatte sich angezogen und war gegangen.
 Mehr wie gelenkt ging er und verließ das kleine Dorf, in dem sie wohnten, die hübschen, beschaulichen Häuser und Straßen, zu den weiten Feldern, die sich wie ein dunkler Teppich erstreckten bis zu den schwachen Lichtern des nächsten Ortes, kilometerweit, finster und still. Er suchte eine Erfahrung, eine Anschauung, ein Ende seiner Gedanken, der Theorien und des Philosophierens, den Unterschied von Alleinsein und Einsamkeit. Der Überdruss ließ ihn gehen und das Gewohnte verlassen. Man muss einen Raum finden, in dem man sich loslösen kann, stillewerden, vergehen, wahr werden ... Sind nicht viele aus den Gesetzmäßigkeiten, aus den Bestimmungen herausgetreten, sei`s auch nur eine Weile, um die wahre Fügung zu erkennen, die Natur der Dinge, den großen Geist, den ewigen Gott; in Wüsten und Wäldern, auf Bergen und in Tiefen, auf Meeren und am Firmament? Er ging auf den Acker. Er hatte nach einigen Träumereien über entlegene und mystische Orte verstanden, dass der Raum direkt vor der Haustür lag, erahnt bei einem Blick aus dem Fenster. Einige Meter nur, und doch verließ man eine Welt und trat in eine andere ein. Es hat mit der Betrachtung zu tun, mit der Wahrnehmung, mit der Gewichtung von Aufmerksamkeit und Ignoranz. Uns geschieht das ständig, wir sind eigentlich nie in der faktischen Realität, sondern unser Geist, unsere Empfindungen, unsere Sinne schweifen umher wie Windböen. Hätte dies ein Ende und wir wären nur noch Realität, nur noch eine Tatsache, wir würden wohl tot umfallen, oder eher noch einfach erstarren. Wie man nicht an den Geist glauben kann, dachte er, ist mir unbegreiflich.
 Er setzte sich auf den Ackerboden, schloss die Augen und atmete tief ein. Weit entfernt war leise das Rauschen der Autobahn zu hören und er genoss es, noch dieses Treiben der Welt, noch diese Betriebsamkeit und Geschäftigkeit der Menschen zu vernehmen, und sich selbst jetzt und hier daraus ausgestiegen zu fühlen. Letztendlich geht dies nur im Innern, wusste er. Dort muss es geschehen. Der Gang nach draußen, ins Feld, in die Wüste, auf den Berg, ist das Abbild der Sehnsucht; eine Schule, um das zu verinnerlichen, wonach das Herz sich sehnt, sodass einmal selbst aus einem gefesselten oder zerfallenen Leib noch die Augen leuchten und ein Vertrauen und ein Frieden unter den Ketten ausharrt, bis sie fallen.
 Er legte sich, öffnete die Augen wieder und schaute hoch in das endlose Meer aus tiefer Dunkelheit und Sternen. So hoch und so tief zugleich, voller schimmernder Zeichen, Anordnungen und Bilder. Er war fasziniert gewesen, als ihm jemand vor Jahren mal erklärt hatte, dass man mit dem Blick in die Sterne in die Vergangenheit schaute. Es hatte ihn in einer Art und Weise fasziniert, die man wohl das Gefühl der Erhabenheit nannte. Und die Erhabenheit kehrte nun wieder, trat ihm vor Augen und vereinnahmte ihn. Das war eine wunderbare Gabe, die sie innehatte: zwanglos vollkommen zu vereinnahmen, wie die Liebe. Und wenn er nun wieder richtig gewichtete, die Aufmerksamkeit und die Ignoranz, nur nach oben sah und den schwarzen Horizont vergaß, dann war er in diesem Sternenmeer, dann fiel er in den Himmel.
 Und er verstand: Wir erklimmen dort gar nichts. Wir erlösen uns nicht, wir retten uns nicht. Der gleiche Himmel, dieser wunderschöne Himmel, schickt zuweilen Blitze und Donner, heftige Stürme und Sturzfluten, Hagel und Schnee, und bleibt erhaben über all unser Ungemach, über all unsere Tränen, all unsere Schwierigkeiten. Nur wenn dort Liebe ist, können wir leben; vollkommene Liebe. Vor diesem erhabenen, wandelbaren, schweigsamen Himmel, vor diesem Gesetz sind wir wieder wie am Anfang, wie das Neugeborene ausgeliefert und hingegeben an Liebe oder Zorn. Rachamim, hatte er gelernt, das ist hebräisch und heißt zugleich Mutterschoß und Erbarmen. Beides habe ich erlebt, dachte er. Wie in deinem Schoß das Leben wuchs, wie sich ein Werdegang an deinem Bauch abzeichnete, bis an das Herz, und mit jedem Tag ein Band dichter geflochten wurde aus Liebe, Sorge und Vorstellung. Wie alle Untersuchung, alle Forschung und Wissenschaft, alle Darstellung und Betrachtung des Sichtbaren nie sein Geheimnis offenbaren können, das Zusammenwirken aller Teile zu einem System. Das gilt für alles: Man zerlegt und zerstückelt die Natur auf der Suche nach dem kleinsten festen und unveränderlichen Teilchen und weiß dann immernoch nichts vom Leben und kommt nur dorthin, wo man auf die Knie gehen müsste. Man hat sogar den ganzen Menschen zerfleischt auf der Suche nach der Seele und dem Geist, um dann einzusehen, dass dies gar kein Stoff, gar keine Substanz ist, sondern ein Prozess und eine Beziehung. Heiliges Geheimnis.
 Erbarmen, das hatte er oft erlebt, doch als sein Sohn geboren wurde, war es Fleisch und Blut geworden. Denn das ganze Kindlein rief nach Barmherzigkeit und Liebe, eine andere Sehnsucht gibt es im Menschen nicht. Was der neugeborene Mensch als erstes erfährt ist Ausgeliefertsein, Hingegebensein. Die Hingabe aber geht von Liebe aus. Setzt die Hingabe nicht die Liebe voraus, so ist sie keine. Hingabe aus Angst gibt es nicht. Hingabe aus Erniedrigung gibt es nicht. Hingabe aus Bedrohung gibt es nicht. Der Eindruck der Minderwertigkeit ist sekundär, die Angst der Existenz ist sekundär, das Geworfensein in die Welt ist sekundär, rückblickend. Das Erste aber und Natürliche im Menschen ist die Einforderung der Liebe, des Erbarmens und der Pflege durch Hingabe des ganzen Wesens; das absolute Vertrauen, der absolute Glaube: da werden Hände sein, die mich halten. Da werden Augen sein, die mich sehen. Da wird an meinem Weg gelegen sein, an meiner Bildung, meinem Charakter, meinen Gaben, meinen Bewährungen, meinen Taten und Werken; an mir wird dort gelegen sein.
 Es heißt, der Geist entwickle sich aus der Materie, um das belebte Wesen zu organisieren. Doch die Materie, die Gestaltungen und Körper müssen Information haben, die in sie gegeben wurde, um zu funktionieren. Information aber kann nicht erprobt werden, sie muss richtig sein, damit das System funktioniert. Sie wird nicht aus der Natur heraus geschrieben, sondern ist Gedanke und Einrichtung aus dem Geist.
 Ein Geist, der ex nihilo den Raum ausspannte, ihn gestaltete, einrichtete und die Gestalten in Bewegung setzte zu einer Harmonie aus Bedingtheiten; feinabgestimmte Beziehungen in einem expandierenden Universum. Alldas, so heißt es, aus Kreativität, aus Idee und Liebe zur Umsetzung, zur Erschaffung. Und dieser nur kann eine Gestalt beleben, weil er Leben ist, und gibt ihr Atem ein; In-spiration.
 Und hier liege ich nun, blicke zu diesem unbeschreiblichen Firmament, sehe genaue Planung und Kreativität darin, einen Künstler, der Meisterwerke schafft, dort oben wie hier unten: die Setzung, Bahnen und Beziehungen der Planeten. Das Licht der Sterne aus der Vorzeit. Die Wolkengebilde und ihre Vergänglichkeit. Die Morgenröte und der Abendhimmel. Die zitternden Blitze und der grollende Donner. Der Regen und der Schnee, Stürme und Winde. Die Formationen der Berge. Die wilden und tiefen Meere. Die Vielfalt und Farben der Tiere und Pflanzen. Die Schönheit der Frauen. Der Zauber der Geburt. Das Geheimnis des Lebens. Die eigene Innenwelt. Der Geist.
 Und ich muss von seiner Liebe ausgehen als alles, was mich trägt, was mich hält, was mich leitet, was mich heilt ... alles, wonach ich mich sehne.

Er lächelte, stand auf vom Ackerboden und ging nach Hause zu seiner Frau und seinem Sohn.
 Bevor er einschlief dachte er noch: Jetzt hast du wieder nur philosophiert ...   

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