So hoch

Irgendwann werde ich das alles überwunden haben, dachte er. Dann werde ich mich wieder erheben von der Erde und fliegen, wie in Kindertagen.
 In den Kindertagen war es so: wenn er sich abends ins Bett legte, in dem kleinen hübschen Kinderzimmer, das ganz oben und am Ende des Flurs lag, von Dachschrägen eingekeilt (arbeitendes, knarzendes Gebälk), dann stellte er sich vor, wie es ihn aus der Decke hob und er durch das Fenster ins Freie schwebte, alles unter sich sah, und dann über die Straßen, Gärten und Dächer hinweg davonflog, ohne Flügelschlag, getragen wie eine Wolke, leichter als alles auf der Welt. Er stellte es sich nur vor und es war so; die Fantasie regierte die Sinne und es spielte im kindlichen Gemüt keine Rolle, ob man von einer unsichtbaren Macht bewegt wurde und ausgeliefert war, oder noch selbst die Beherrschung hatte. Man lieferte sich gerne aus.
 Irgendwann würde das nachlassen und er würde nicht mehr fliegen, sondern meistens fallen. Höhe würde beunruhigen und verunsichern, Angst langsam an den Beinen zum Bauch und zum Rumpf hochkriechen, die den Körper ständig für den bevorstehenden Fall zusammenzog und lähmte. Die Fantasie würde immer seltener ein ersehnter Begleiter in den Schlaf sein, eine Befreiung des Geistes, als eher eine Versammlung verworrener Bilder in der Nacht, Unterbewusstsein. Und er würde denken, welch eine dumme Psychologie es sei, dass man träumte zu fallen, wo man als Kind unbeschwert geflogen ist; eine Seele wie aus einem Bilderbuch oder einem schlechten Roman. Aber was sollte er machen, er hatte Höhenangst. Und in seinen Träumen waren es keine Höhen, die man von Balkonen im zweiten oder dritten Stock herunterblickte, sondern Höhen von Wolken, ebenso faszinierend wie unmenschlich, und Abgründe, die man lange fiel, so hoch.
 Und vielleicht war es ja so simpel mit der Psyche. Du kommst zur Welt und bist frei von allem, natürlich, denn es ist ja noch nichts geschehen. Dann nimmt die Schwermut dich ein, hängt sich wie ein Gewicht an dich und zieht dich hinab. Oder was ist es? Was ist passiert? Er wollte glauben, die Welt, die Menschen hätten ihm das zugefügt: Ich war nur Geist. Dann kommen sie und sagen mir, was ich bin, was ich nicht bin, was ich zu sein habe und was nicht. Sie bauen mein Skelett, sie ziehen Nerven, Gefäße, Fleisch und Haut über meine Knochen, strecken und drücken mich, je nachdem, wie groß oder klein ich werden soll. Sie sagen mir, wie ich aussehe, wie ich mich kleide, wie ich spreche, wie ich wirke, wem ich ähnlich bin und wie sehr, was man daraus schlussfolgern kann, was ich einmal sein werde, und so weiter und so fort. Sie sagen mir sogar, was ich gemeint habe, wenn ich etwas rede, als würde ich undeutlich sprechen. So erschaffen sie mich. Und wenn auch an ihrem guten Willen, an ihren besten Absichten kein Zweifel besteht (oder?), so muss ich doch meine Seele retten! Denn glaubt man dieses oberflächliche Zeug und nimmt es sich zu Herzen, dann härtet sich auch das zur Materie, was uns eingehaucht wurde, um über sie erhaben zu sein; und dann fällt man wie ein Stein.
 Erhabenheit aber, das wird er wohl einmal lernen, errettet ihn aus diesen Stricken, aus all dem, worin man ihn verflechten will, wo und wie man ihn haben will. Und sie hilft, sich aus dieser Kreatur herauszuschälen, den alten Menschen abzusterben, aus Fleisch und Blut herauszusteigen, und alldas Bewegungen und Bindungen der Natur sein zu lassen und zu akzeptieren, mit ungetrübten, klaren Augen.
 Erhabenheit, aber aus Liebe. Liebe aber ist aus Erkenntnis, Erkenntnis aber ist aus dem Geist, der Geist aber ist aus Gott. Gott aber ist die Liebe.

Lass, ich wünsche es dir, all das los, was du anderen nachtragen willst.
Lass niemanden mehr daran schuld sein, was du an dich hast herantragen lassen.
Jeden Tag kannst du sterben, deinen Einbildungen, diesen Trugschlüssen und Abziehbildern absterben, aus dem Grabe auferstehen und zurücklassen, was das alles auch immer gewesen sein mag.

Und da ist keine Höhe so hoch ... Er wird dich erheben von der Erde und dich tragen, wie in Kindertagen. 

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