Sebastian

Wärme drang durch den Takenschrank aus der Küche in die Stube. Kerzen warfen Schattenspiele in den kargen Raum. Der Vater war nochmal nach draußen zu den Tieren gegangen, wo der Wind pfiff, weil er irgendwas vergessen hatte. Die Mutter streifte ihm das Nachthemd über und strich ihm die Haare glatt. Sie roch nach Teig und Essen und Arbeit.
"So, zu Bett!"
"Darf ich nochmal zur Marlene?"
"Aber schnell", sagte sie und er lief nach nebenan.
Marlene lag in einem Bettchen in der Nähe der Eltern, weil sie krank war. Weiß wie Schnee und abgemärgelt, lag sie schon ein Jahr so; niemand wusste, was ihr fehlte, und im Dorf meinte man: Das Kindlein macht`s nit mehr lang, bekreuzigte sich und sagte: Jesus Christus. Der Priester war schon bei ihr gewesen zur Todesweihe, und wie es dauerte, kam er alle paar Wochen oder gar Tage mit seinem Brot und seinem Öl und seinem Latein.
Sebastian ging jeden Abend noch einmal zu ihr, bevor er sich schlafen legte, denn man wusste ja nie und Schlafes Bruder, hieß es, sei der Tod; das verstand er schon. Er setzte sich an den Bettrand und seine Schwester blinzelte ihn aus kleinen grauen Augen an. Ihr schmaler Kopf schien auf dem dicken Kissen wie der einer Puppe und ihre Händchen auf der Decke sahen aus wie Mäusepfoten. Zwei braune Zöpfe fielen links und rechts von ihr und glänzten fettig, die Mutter konnte sie waschen, so oft sie wollte.
"Was machen we morgen?", fragte sie ihn und lächelte erwartungsvoll.
"Morgen? Morgen geh`n we zuerst zum Fluss runter und bauen unsern Wall weiter. Gut?"
"Ja is gut. Aber geh`n we auch wieder bei dem Baum gucken? Da war doch das Nest mit den Vögelchen. Geh`n we da auch hin?" Das Sprechen fiel ihr bereits schwer und zum Ende hin wurde sie immer leiser.
"Die Vögelchen sind doch nit mehr. Die sind doch schon fort", sagte er.
"Ahja, die sind fort", erinnerte sie sich und die Lider wurden ihr träge.
"Sind davongeflogen."
"Ja, in den Himmel." Sie schloss die Augen und er wartete noch etwas, das tat er immer, und sah sie an, ob sie die Augen nochmal öffnen und etwas sagen werde, oder etwas anderes. Dann kroch er in sein eigenes Bett, und wenn die Mutter das Petroleum dämmte und auf dem Vorhang Licht und Schatten wanderten, horchte er auf den Atem seiner Schwester und malte sich aus, sie würden zum Fluss gehen, Wälle aus Steinen in das klare Wasser häufen, Nüsse und Beeren sammeln und nach Vogelnestern Ausschau halten. Und alles war nicht mehr so schlimm.

Er musste früh aufstehen, da der Weg zur Schule weit war. Und auch, wenn der endlose Feldweg ins nächste Dorf mit der Nacht die wenigen Gelegenheiten zum Träumen waren, auf den Feldern im Frühling der Pflug durch den Acker grub und die Kühe mit ihren Kälbern grasten, im Sommer große Heuballen in der Sonne glühten und die Bauern das Getreide ernteten, im Herbst alles kahler und stiller wurde und im Winter der Schnee glitzerte und unter seinen Sohlen knirschte, so hatte er doch nicht viel Zeit dazu und durfte nicht zu spät kommen, sonst gab es Schläge und man musste sich in die Ecke stellen. Auf dem Heimweg sammelte er für Marlene seltene Steine, pflückte ihr Blumen oder fand schöne Federn, die Vögel verloren hatten, und dachte sich aus, wohin er sie abends mitnehmen konnte. Wieder zuhause musste er nach Tisch dem Vater auf dem Hof helfen, dessen Rücken oft schmerzte, und weil er ungeschickt war, sah er ihn oft kopfschüttelnd seufzen: "Was wird das noch werden?", und manchmal schickte er ihn weg und sagte überdrüssig: "Na, mach dich ab!" und er antwortete dann: "Ja Vatter" und hatte Schuldgefühle, weil er dem Alten noch mehr Arbeit machte als ohnehin. Dann ging er zu den Feldern oder zum Fluss, schaute den Vögeln nach und vergaß den Vater schnell und dachte wieder an Marlene und an Reisen mit ihr, überlegte sich Geschichten oder Anekdoten oder was sie heute in der Schule gelernt hatten oder wie es auf den Feldern aussah. Und manchmal wurde ihm gewahr, wie es um seine Schwester stand oder dass niemand wusste, wie es um sie stand, niemand außer diesem Gott hinter dem ganzen Brot und Öl und Latein. Und dann weinte er um Marlene, bis der Vater nach ihm pfiff oder die Mutter rief.

So ging es und eines Nachts, als er unter dem Atem der Schwester schon eingeschlafen war, hörte man nur noch ein kehliges Gurgeln und ein hektisches Scharren und Schritte, sah die Lampe entflammen und auf dem Vorhang Schatten und Licht wandern und wusste den Vater wieder kopfschütteln und seufzen und die Mutter weinen.

Im Dorf sagte man: "Jesus Christus!" und bekreuzigte sich und meinte: So geht`s zu in der Welt.
Und die Felder, auf denen im Frühling der Pflug durch den Acker grub und die Kühe mit ihren Kälbern grasten, im Sommer große Heuballen in der Sonne glühten und die Bauern das Getreide ernteten, im Herbst alles kahler und stiller wurde und im Winter der Schnee glitzerte und unter seinen Sohlen knirschte, diese Felder sah er noch sehr oft.



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