Stammtischparolen

Drei Herren in einem gehobenen Lokal zu später Stunde, bei gutem Wein, Zigarren und glänzendem Piano.
"Ich meine", sagt der eine, "nach reiflicher Überlegung, man muss sie verunsichern. Es ist die Zeit für Verunsicherung. Das gemeine Volk hat sich eingerichtet und zehrt noch vom vergangenen Aufstieg, von den Werken ihrer Mütter und Väter und meint, es bliebe immer so, eine Wonne ohne Ende. Sie machen sich ja auch gar keine Ideen, man ist schon lange nicht mehr auf der Hut, schließlich brennen hier ja immer die Laternen und wenn nicht die, dann irgendein Schaufenster, irgendeine Reklame, irgendeine Bushaltestelle. Sie schlafwandeln durch das Leben, scheint mir, benebelt von ihrem Wohlstand, von dieser ganzen Propaganda, was man haben kann und haben muss, abgefüllt und träge von Speise und Trank, aber auf der Suche nach Schnäppchen, während anderswo die Kinder an ihren Nägeln kauen oder in die Tischplatte beißen, schon zahnlos und mit aufgeblähten Bäuchen, weil sie nur Luft zu Essen kriegen, will man meinen." Er nippt an seinem Wein.
"Sie gewahren ja jetzt schon nicht, wie sie rumgescheucht werden, wie dumme Hühner, von einem Geschäft zum nächsten, von einer Attraktion zur nächsten, von einem Angebot zum nächsten, und so weiter und so fort. Es tut schon lange keiner mehr, was er will oder entschieden hat, sondern sprich nur ein besseres Angebot, so wird die Brieftasche geöffnet, ha! Kann man es doch bei jeder Neueröffnung mitansehen: wenn es irgendwo was zu holen gibt, dann kreisen sie wie die Geier um das Aas, und wenn die Türen geöffnet werden, stürmen sie los und trampeln sich fast zu Tode, was für ein Spektakel! Und dieser ganze Widersinn: der Wohlstand sprengt ihnen fast die Knöpfe vom Hosenbund, doch fürs Schönheitsideal hungern sie sich wieder auf somalische Verhältnisse herunter; freiwillig! Die Frauen haben keinen Busen und kein Becken mehr und lassen sich mit Kunststoff auffüllen, wenigstens für den Schattenriss, die Männer streichen sich übers Haar und achten auf ihren Teint und sowas. Was für ein Spektakel!" Er hält inne und betrachtet seine Nägel.
"Flattergeister! Der Spiegel ist ihr Altar. Sie stehen davor und sagen: Spieglein, Spieglein an der Wand... und lassen sich antworten: Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land; weiß doch jeder, dass Spiegel lügen. Wäre er ehrlich, würde er sagen: O Jungfer Königin, da du gangest, wenn das deine Mutter wüßt`, das Herz tät ihr zerspringen. Aber so ist es und es reicht ihnen, ihren Spiegel sprechen zu lassen, was sie ohnehin hören wollen. Sage irgendeiner etwas anderes, so behaupten sie: Ich habe noch nie etwas drum gegeben, was andere von mir denken!, tänzeln aber täglich auf allen Plattformen und Bühnen herum und brüllen: Gefalle ich euch, gefalle ich euch?!, was für ein Spektakel! Natürlich sind sie alle aufgeklärt und autonom, ha, aber huldigen Göttern, die so alt sind wie die Menschheit selbst; die Selbsttäuschung, die alte Schlange." Er nimmt einen großen Schluck Wein.
"Sterben? Nicht doch! Sondern Er weiß, wenn ihr esst, werdet ihr sein wie Er... Ha, sie haben schon den ganzen Baum kahl gefressen; ginge es nach ihnen, sie hätten die Schlange wahrscheinlich gleich mit runtergewürgt. Ja, ich meine, man muss sie verunsichern. Da ist nicht viel dabei! Wie war es bei Mose: das Wasser wurde blutig, Frösche, Mücken, Fliegen und Pest verseuchten Hab und Gut, Land und Leute des Pharao, Pocken schlugen die Menschen, Hagel bombadierte sie, dann die Heuschrecken, die das Übrige vertilgten, dann die Finsternis und dann der Erstgeborenen Tod. Kein Zauberwerk, nein, nein; die Wasser sind schon lange blutig. Oder was wird da an die Strände geschwemmt? Nur genügt dies nicht. Sie empören sich drüber und rufen: Was wird da an die Strände geschwemmt!, machen rührende Bildchen und Proklamationen: So kann es nicht weitergehen; wann hat dieses Leid ein Ende?!, während sie sich die fettigen Finger ablecken. Nein, sondern kratze an dem, was ihnen lieb und teuer ist, an ihrer Selbstzufriedenheit, an ihrem In-den-Tag-hinein, an ihrer Illusion der menschlichen Natur, die eben nicht nur aus einer Reihung von Fotos und Kalendersprüchen besteht, sondern tief und dunkel ist. Wenn das Schlimmste ein Falschparker oder eine unfreundliche Kassiererin ist, vielleicht noch ein gestörter Serientäter, von dem man aber dann sagen kann: Naja, er ist krank!, oder: Wir sind ganz schockiert, wir haben nie etwas geahnt!, dann stumpft der Blick doch mit der Zeit ab. An sich selbst lernen sie`s ja doch nicht, denn das moderne "Erkenne dich selbst" ist vollkommen fehlgeleitet und verblendet, und die eigenen Abgründe werden mit "Na, wir machen alle mal Fehler" verspachtelt. Und wenn Erkenntnis nicht gewonnen wird, so muss sie eben zugefügt werden! Also sende ihnen Frösche und Mücken und Fliegen, Pest und Pocken, Hagel und Heuschrecken, Finsternis und... ja." Er atmet tief nach dieser Rede.
"Mein Freund", spricht der andere, "ich muss ja vielem zustimmen von dem, was du gesagt hast. Das aber: was wissen sie denn nicht? Oder was haben sie nicht erkannt? Wissen sie es nicht? Ist nicht über all dies schon so viel geschrieben und gepredigt und gelehrt worden, dass darin keine Unklarheit mehr möglich ist? Ganze Regale stehen voll mit derlei Büchern, allerlei Gotteshäuser werden damit gefüllt, nicht mal mehr in die Kirche müssen sie dafür gehen. Es wissen alle und es nicken auch alle, solange man nicht sie persönlich meint. Du sagtest es ja selbst: die Empörung ist groß, die Anteilnahme ist groß, ebenso die offene Anklage gegen Übel und Übeltäter; und bei der unsympathischen Verkäuferin haben sie es bereits wieder vergessen, nicht wahr? Man schenkt ihr kein Lächeln und rettet damit vielleicht ihren schlechten Tag, sondern zürnt ihr und flucht ihr insgeheim Böses an den Hals. Aussprechen werden das die Wenigsten, doch das ist es eben, dass sie immernoch nicht eingesehen haben, dass alles bereits Innen stattfindet und dort geschieht, was äußerlich nicht abgebildet wird; oder manchmal eben doch. Immernoch machen sie einen Unterschied zwischen Innen und Außen, zwischen Herz und Hand, zwischen Gesinnung und Vollzug, streicheln sich selbst über die Schulter und sagen sich: Ach, ist schon gut!" Er streicht die Serviette vor sich auf dem Tisch glatt.
"Und das hat nichts mit Unwissenheit zutun. Es ist bekannt und wenn sie es hören, stimmen sie zu: Ja, ja, das ist richtig!, und denken sich, das sollten die Leute doch endlich mal begreifen, haben aber selbst gerade jemanden erdrosselt, sind der Frau oder dem Mann untreu gewesen, haben jemanden überfahren, jemanden betrogen, einem all seine Sachen gestohlen, das Kind an die Wand geschmissen, Rufmord begangen, ein Feuer gelegt oder was auch immer. Ist das nicht heuchlerisch? Und was bitte, mein lieber Freund, ist hier unbekannt? Welche Erkenntnis sollte zugefügt werden? Sagtest du nicht selbst, sie haben den Baum schon kahl gefressen? Und erkennen`s noch nicht? Nichts ist abgestumpft am Blick, sondern sie ignorieren es, schließen die Augen oder schauen woanders hin. Also meine ich, man soll ihnen das Innere nach Außen kehren. Ohne Ermahnung, ohne Frösche und Mücken und Fliegen, ohne Pest und Pocken, ohne Hagel und Heuschrecken und dergleichen. Sondern halte ihnen den Spiegel vor, den richtigen, nicht diese Lügner, die sie schön nennen, obwohl sie hässlich sind, doch auch nicht diese Ermahner und Klagerufer, die vom Herzen der Mutter reden, wo doch die Mütter das gleiche tun wie die Töchter. Nein, sondern den, der das Wesen zeigt; ein Menetekel. Sende ihnen Täter, die äußerlich abbilden, was alle mit Innerlichkeit, mit straffreien Gedanken und Gefühlen rechtfertigen, Handwerker statt Herzchen, Vollzieher statt Gesinnte." Er zuckt gespielt mit den Schultern.
"Ob dabei jemand zur Einsicht kommt? Nun, bleiben nicht immer welche übrig? Die können dann neue Bücher schreiben oder Fachvorträge darüber halten, wie das alles nur geschehen konnte und dass man es hätte wissen müssen et cetera. Nicht wahr?" Er schaut den dritten an, der bedächtig an seiner Zigarre pafft und eine dicke Qualmwolke von sich gibt.
"Meine Herren", sagt der schließlich nach einer Weile, "Sie schwelgen doch beide sehr, muss ich sagen. Sie sind sehr bemüht, das sehe ich wohl, doch warum? Lassen Sie die Dinge einfach laufen, wie sie laufen. Der Mensch wird für sein Übel schon selber sorgen. Denn es ist so: als der Mensch geschaffen wurde, da ist ihm der ganze Widerspruch miteingewachsen, wie ein feiner Haarriss im Fundament; und man fragt sich: Kann man darauf bauen? Nun, es wurde darauf gebaut und seither geht ja letztlich alles, wie es gehen soll. Lass alles zusammen wachsen, geschnitten und getrennt wird am Ende. Ich weiß wohl, Sie halten mich für quietistisch, aber bitte, meine Herren, wer von uns rührt denn einen Finger, ohne dass er geschoben oder gezogen wurde? Wer tat denn je, was er wollte oder entschieden hat? Das ist keine neue Weisheit, sondern uraltes Gesetz. Selbst Ihr Eifer ist entzündet, oder sagten Sie sich etwa heute morgen: Ich will und werde heute abend in Feuereifer ausbrechen! ? Doch wohl nicht. Dafür waren Ihre Reden viel zu überschwänglich. Gut, gut, aber bitte, nicht so grimmig. Trinken Sie, rauchen Sie, bitte, genießen Sie den Abend und die große Ordnung, die Harmonie der Dinge. Und seien Sie gewiss, es wird alles an sein Ende kommen. Auf Ihr Wohl!" Er prostet ihnen zu.
Der Kellner nähert sich.
"Die Herren, ich habe jetzt Feierabend. Dürfte ich bei Ihnen schonmal abkassieren?"
"Aber selbstverständlich", sagen sie und geben ein hohes Trinkgeld aus.
Die späte Luft ist angenehm warm, der Blick reicht vom Balkon über den großen See zu schwarzen Tannen am Horizont. Eine Dame ist an das Piano getreten, vereinbart sich durch Blicke mit dem Pianisten und singt: Nein, nichts von nichts. Nein, ich bereue nichts.

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