Das Ende eines Tages

Vor ihm lag ein Rapsfeld.
Er stand an einer einsamen Haltestelle, wartete auf den Bus und dachte über den Tag nach.
Dieser Tag.
Der Chef hatte ihn heute morgen wieder angeranzt, weil er zu spät gekommen war.
Das lag am Bus. Er hatte schonmal versucht, es zu erklären, aber wenig Verständnis bekommen.
Wenn er morgens den ersten Bus nahm, um viertel vor sechs, dann schaffte er es mit dem Fußmarsch von der Haltestelle zum Betrieb fast exakt pünktlich zum Dienst. Wenn der Bus direkt durchfuhr.
Auf der Strecke gab es vier Haltestellen und es stiegen nur wenige Leute ein, die meisten fahrende Stammgäste, wie er, mit Monatstickets, die nicht lange mit der Bezahlung aufhielten oder mit der Beschreibung, wohin sie eigentlich wollten und was sie überhaupt eigentlich wollten und so weiter. Sie stiegen meist wortlos ein, setzten sich wortlos, stiegen an ihrer Station wortlos wieder aus, wie er.
Doch an der dritten Haltestelle machten die Fahrer häufig eine Pause. Die Türen wurden geöffnet, der Motor wurde abgestellt, einer biss in sein Brot, ein anderer blätterte in einem Magazin, wieder ein anderer tippte auf seinem Handy rum. Und während die paar anderen Fahrgäste scheinbar ungerührt in ihrer Schlaftrunkenheit hockten, wurde er sekündlich immer unruhiger, blickte ständig auf die Uhr und sah seinen knappen Vorsprung dahinschwinden.
Einmal hatte er den Mut gefasst den Fahrer anzusprechen, was eigentlich nicht seine Art war, weil er nur schwer von anderen etwas fordern konnte, ohne sich unhöflich vorzukommen, und weil er fast immer davon ausging, dass Dinge, die getan wurden, wohl ihren Grund und ihre Berechtigung hatten. (Die Pause war sicher vorgeschrieben, der Zeitplan musste eingehalten werden oder der Fahrer war schon die ganze Nacht auf einer anderen Linie unterwegs gewesen, oder irgendwas.)
Doch einmal sprach er ihn eben an, nachdem der Fahrer den Motor erst länger hatte laufen lassen, als fahre er augenblicklich weiter, ihn dann aber doch abgestellt hatte.
"Entschuldigen Sie. Warum fahren Sie nicht weiter?"
"Vorgeschriebene Pause."
"Ah ja... Nur ich muss zur Arbeit, wissen Sie, das wird sehr knapp für mich."
"Und ich mache hier meine Arbeit. Tut mir leid."
Also standen sie da, eine Station vor seinem Ziel, und der Tag bekam schon einen üblen Beigeschmack, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte.
Sein Chef wütete aus seinem Büro hinter ihm her, immer mit der Drohung, er werde das nicht mehr lange mitmachen, was man ernstnehmen konnte oder auch nicht; er wusste es nicht. Es hatte bereits Personaleinsparungen gegeben. Er arbeitete seit zwei Jahren mit der Angst im Nacken, entbehrlich zu sein und gekündigt zu werden. Damals wurden manche versetzt, einige mit Abfindungen weggeschickt, einige bei gegebenem Anlass gefeuert. Die Stimmung war mies. Die frühere kollegiale Bande gab es nicht mehr und die Arbeit wurde schlampiger. Jeder schien jedem verdächtig und mit der Zeit verachtete jeder jeden ausreichend, um schlecht zuzuarbeiten. Drei Kollegen hatten selbst gekündigt, betont mit der Begründung: "Ich hab` hier keinen Bock mehr!"
Er verachtete seine Kollegen nicht. Er bemühte sich, zu allen freundlich zu sein, ordentlich zu arbeiten, alles an seinen Platz zurückzulegen und wichtige Infos für sie zu notieren. Vielleicht sah sein Chef das ja doch und schmiss ihn deshalb nicht raus. Doch wenn er das Chaos sah, das die Mitarbeiter hinterließen, fragte er sich oft, warum er sich eigentlich die Mühe machte und kam darauf, dass er es wohl für sich selbst tat, für seine Gerechtigkeit.
"Unser feiner Schneider!", hatte ein Kollege ihn mal schnippisch kommentiert, als er auf etwas im Arbeitsablauf hingewiesen hatte.
Das waren Tage, Tage wie dieser, an denen er an der einsamen Haltestelle stand und sich fortwünschte.
Dann, wenn wirklich niemand mit ihm dort stand, schloss er die Augen und ließ sich über das Rapsfeld hinwegschweben in die Luft, ließ sich vom Wind über Dörfer und Äcker tragen, über die Städte und Großstädte, weit oben, mit Spielzeugautos in den Straßen unter sich, über die Flüsse, auf deren Oberflächen das Sonnenlicht tanzte, mit Vogelzügen um sich, wie Tierfilmer es erst nach mühsamer Annäherung und mit aufwendiger Technik schafften, hin zum Meer, über die zahllosen schäumenden Terrassen und sich wandelnden Gestalten, die aus sich selbst entstanden und in sich selbst vergingen.
Dann dachte er, dass er am liebsten Schriftsteller geworden wäre. Einer, der großartige Erzählungen schreibt, vom echten Leben, von echten Menschen und von echten Gedanken und Gefühlen und alldem. Gab es etwas Schöneres?
Dann kam der Bus.
Zuhause strahlte ihn sein Sohn an. Er machte an den Händen der Mutter die ersten Schritte.

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