Vom Stehlen und vom Haben

 Du sollst nicht stehlen. (2. Mose 20,15)

Wer stiehlt, stehle nicht mehr, sondern arbeite und tue etwas Rechtes mit seinen Händen, damit er etwas hat, das er dem Notleidenden geben kann. (Epheser 4,28)

 


Du sollst nicht stehlen. Auch das sind Worte aus der Bibel, Worte, die uns vielleicht selbstverständlich erscheinen, ganz grundsätzlich und eindeutig. Man soll nicht stehlen, das leuchtet jedem ein. Der Besitz des anderen gehört uns nicht, und außerdem steht es unter Strafe, wenn wir andere bestehlen - rein juristisch betrachtet. Gewisse Gesetze teilen sich alle Länder und Gesellschaften dieser Welt, mag es in anderen Punkten auch große Unterschiede zwischen den Kulturen geben: "Du sollst nicht stehlen" gehört dazu. In der Bibel steht dieser Satz in einer Kette von Geboten, die sich auf das Miteinander zu den Mitmenschen beziehen:

Du sollst nicht töten. 

Du sollst nicht ehebrechen. 

Du sollst nicht stehlen. 

Du sollst kein falsches Zeugnis reden gegen deinen Nächsten. 

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Frau, Arbeiter, Hab und Gut.  

Diese Gebote aus dem sogenannten "Zehnwort" (uns besser bekannt als "Zehn Gebote") stehen da und werden nicht erläutert. Es wird vorausgesetzt, dass der Mensch verstehen kann, was das bedeutet, und dass der Mensch aus dem Volk Gottes, nach der Erfahrung der Sklaverei und der Befreiung durch Gottes Hand, dies tun wird. All diesen Geboten gemeinsam ist, dass sie davon reden, was man anderen wegnimmt, buchstäblich und innerlich: das Leben, den Partner und die Partnerin, den Besitz, den guten Ruf. Allen ist gemeinsam, dass sie sich nicht auf die Persönlichkeitsrechte des Menschen bezogen, wie wir das heute denken, sondern auf den Geber, auf Gott: Wir alle sind Gäste auf Erden mit unserer Lebensfrist, mit der Gefährtin/dem Gefährten, die oder der uns auf diesem Weg begleitet, mit dem Hab und Gut, das uns gegeben wurde oder das wir uns erarbeitet haben, und mit dem unbescholtenen Ruf, der uns erstmal zugesagt ist und an dem wir uns zu bewähren haben. Vergreifen wir uns daran, dann verletzen wir nicht nur Leben und Würde des anderen Menschen, sondern auch den, der uns all das gegeben hat. Der Kritiker solchen Unrechts bleibt nicht einfach nur der Mensch allein mit seinen Rechtsordnungen um der Rechtsordnung willen, sondern ist der ewige Gott selbst. 

Und den meisten dieser Gebote ist gemeinsam, dass man nicht erstatten kann, was da geraubt wurde. Das Leben, der zerbrochene Ehebund und der beschädigte Ruf können nicht wiederhergestellt werden. Mörder, Ehebrecher und Lügner bleibt man - es gibt hier von Menschen keine Wiederherstellung, sondern allenfalls die Vergebung für das, was man selbst nicht mehr gutmachen kann. 

Anders beim Stehlen: Gestohlenes kann zurückgegeben werden, es kann erstattet werden. Das Stehlen kann man lassen. Und das spricht der Apostel Paulus im Epheserbrief an: Wer stiehlt, stehle nicht mehr, sondern er arbeite und tue Rechtes mit seinen Händen.

Soweit, so klar. Auch Paulus erläutert das nicht umständlich: Warst du jemand, der gestohlen hat? Dann lasse es und arbeite. - Doch Paulus bindet diesen Appell ebenfalls wieder an die Mitmenschen: Damit du etwas hast, was du dem Notleidenden geben kannst. 

Ging es im mosaischen Gesetz darum, was man anderen nimmt, so geht es Paulus hier darum, was man anderen gibt. Lasse das Stehlen und gehe arbeiten, damit du etwas hast, was du den Notleidenden geben kannst. Der tiefere Sinn dieser Worte fließt aus der gleichen Quelle wie die Gebote zur Zeit des Mose: Wir alle sind Gäste auf Erden mit unserer Lebensfrist, mit unserer Not und Einsamkeit, mit unseren Bürden und Unfähigkeiten, mit unserem Geschick, das dich dort hat geboren sein lassen und ihn hier, dich mit deinem Wohlstand, ihn mit seiner Armut, dich mit deinem Verdienst, ihn mit seiner Bedürftigkeit. Verschenken wir das, was wir genug haben, an die Menschen in Not, dann ehren wir nicht nur das Leben und die Würde des anderen, sondern auch den, der uns all das gegeben hat.

Und nach der Erfahrung der einstigen Knechtschaft, so denkt Paulus, und der Befreiung durch Gottes Gnade, setzt auch er die Frage voraus: Wirst du es tun? Wirst du nach dem anderen sehen? 

Damals wie heute entscheidet die Selbsterkenntnis darüber, was man tun wird. Im christlichen Selbstverständnis sind wir alle Gerettete, Menschen, denen vergeben und an denen Gnade geübt wurde. Und damit schrumpft der Unterschied zu dem Notleidenden ins Marginale: Er ist ja auch nur wie ich. Und hätte mir nicht jemand Gnade und Barmherzigkeit erwiesen, was wäre dann aus mir geworden? Ich war einst jemand, der weggenommen hat, und bin nun jemand geworden, der geben kann.

Barmherzigkeit kann, nach christlichem Verständnis, keine Attitüde sein, kein Zeichen von Hoheit und Macht über andere, sondern rührt aus der Barmherzigkeit, die uns erwiesen wurde, und die uns deshalb mit dem anderen Menschen so gleich macht. 

Dann, so sagen es zahlreiche Texte der Bibel, werden die Menschen, die unsere guten Werke sehen, den Vater im Himmel loben und den Sohn preisen, der alles gab, was er hatte, damit wir, wir seien Diebe, Lügner, Ehebrecher und Mörder (buchstäblich oder im Herzen), damit wir gerettet werden. 

Amen.

 


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