Der Saum seines Gewandes
Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR. (Jeremia 29,13-14)
Und siehe, eine Frau, die seit zwölf Jahren den Blutfluss hatte, trat von hinten an Jesus heran und berührte den Saum seines Gewandes. Denn sie sprach bei sich selbst: Wenn ich nur sein Gewand berühre, so werde ich gesund. Da wandte sich Jesus um und sah sie und sprach: Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Und die Frau wurde gesund zu derselben Stunde. (Matthäus 9,20-22)
Es gibt den Spruch, der Glaube sei einfach nur ein Strohhalm, an den manche Leute sich klammern würden, weil sie sonst nicht klar kämen im Leben. Und Leute, die diesen Spruch zitieren, tun das meist mit dem selbstbewussten, gönnerhaften Unterton: Sie selbst haben das ja nicht nötig, aber wer es nunmal brauche ... Früher hat sich alles in mir gegen diesen Satz gewehrt. Ich war zu stolz dafür. Ich glaubte nicht, weil ich "es nötig hatte", weil ich es brauchte, sondern aus selbstbewusster und voller Überzeugung. Ich hatte etwas geblickt, was andere nicht geblickt hatten - selbstbewusst und gönnerhaft. Die Arroganz des Gläubigen. Wie gut, wenn Gott einen in die Schule nimmt, die sich Leben nennt, und man verstehen lernt: Ist der Satz vom Strohhalm denn so schlimm? Ist die Feststellung, dass man Gott brauche, dass man ihn nötig habe, um leben zu können, denn so falsch, nicht vielmehr vollkommen zutreffend?
Wenn ihr mich, heißt es bei Jeremia, von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Ewige. Jeremia schrieb diese Worte um 585 v. Chr. an das Volk Israel und rief es zur Umkehr auf. Hier wird keine selbstbewusste Glaubensstärke und Überzeugung angemahnt, sondern sehnsüchtige Herzen werden gerufen, Menschen, die Gott suchen, weil sie Gott brauchen. Wir suchen etwas, was mir vermissen. Wir suchen etwas, von dem wir glauben, dass es irgendwo und irgendwie zu finden ist. Darauf gründet dieser Appell und dieses Versprechen Gottes in den Worten des Propheten Jeremia: Sucht mich von ganzem Herzen! Ich werde mich von euch finden lassen.
Muss man dafür einfach nur geknickt genug sein, verzweifelt genug, um diese Sehnsucht zu spüren? Vielleicht ist das so. Es ist keine selbstbewusste Suche, keine Eroberung oder Expedition: "Auf, lasst uns Gott aufspüren und den Himmel für uns erobern!" - Diese Feldzüge werden scheitern - wie die Arroganz des Gläubigen. Das hören wir aus dem Satz: dann werde ich mich von euch finden lassen. Nicht der Mensch wird ihn erobern, wenn er nur sorgfältig oder abenteuerlich genug sucht und forscht, sondern Gott wird sich finden lassen von Menschen, die sich nach ihm sehnen, die den Verlust spüren, wenn er ihnen ferne scheint. Ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten, heißt es in Psalm 51,19.
Solch ein geängstetes und zerschlagenes Herz kommt im Matthäusevangelium an Jesus heran: eine Frau, die seit zwölf Jahren an Blutfluss litt, einer Erkrankung, die sie in der damaligen Kultur dauerhaft unrein machte; sie konnte nur abgesondert vom Rest der Gesellschaft leben. Die zwölf Jahre mögen buchstäbliche zwölf Jahre meinen oder symbolisch für ihr ganzes Leben stehen - so oder so aber waren es zu viele Jahre, um noch irgendeinen Trost zu finden. Die Frau ergreift den einzigen Strohhalm, der ihr noch bleibt: dieser Jesus, von dem alle Leute erzählen, er heile die Kranken. Sie hat nichts zu verlieren. Entweder findet sie bei ihm endlich Heilung, oder sie bleibt endgültig ausgeschlossen vom Leben.
Es heißt dann dort, sie berührte nur den Saum seines Gewandes in dem Glauben, dadurch gesund zu werden. Das werde reichen, wenn er der ist, von dem die Leute sagen, dass er es ist. Auch sie greift nicht zu, fordert nicht ein, erobert nicht, wie andere Kranke das in den zahlreichen Geschichten der Evangelien tun. Die Lebenskraft ist aus ihr gewichen durch diese Krankheit; mit dem, was sie noch hat und was sie noch ist, berührt sie ihn bloß: Dieses kleine, schwache Leben, dieses zerschlagene Herz, diese Verzweifelte und dieser letzte und einzige Strohhalm ...
Hatte Gott einst dem Volk Israel gesagt, er werde sich von ihnen finden lassen, wenn sie ihn mit ganzem Herzen suchen? Hier fügt die Geschichte aus dem Matthäusevangelium hinzu: Und jedes noch so kleine, schwache und ausgeschlossene Leben werde ich nicht übersehen, bleibt nicht unbemerkt; es berührt mich, wenn du deine Hand ausstreckst und nach mir greifst.
Amen.
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