Eine Frage der Redlichkeit - Horizont und Morgenröte


Ob man irgendwo die Wahrheit finden kann? Also ich für meinen Teil muss nach all den Jahren des Forschens und Suchens feststellen, dass ich sie in keiner Kirche, Einrichtung oder Lehre ansich gefunden habe. Ich habe mir so vieles angeschaut, ich sehe nicht, dass irgendeine Gemeinschaft für sich beanspruchen könnte, die Wahrheit zu besitzen. Und je mehr manche das behaupten, je eifriger sie die Faust ballen, um die Wahrheit festzuhalten, desto unglaubwürdiger werden sie und werden einmal sehen, dass die Hand leer ist, die sie zusammengepresst haben. 

Öffne die Hände. Es ist nicht ohne Grund eine sehr alte und häufige Gebetshaltung. Wir, die wir auf diese Welt kommen, ohne etwas bei uns zu haben, und die wir von ihr gehen, ohne etwas mitnehmen zu können. Wir, die wir Staub und Erde sind, Erde und göttlicher Atem.

Dort, wo Menschen Gott suchen, ihn und die Menschen lieben, dort leuchtet doch die Wahrheit auf. Wenn man die Liebe zueinander hat, die er geboten hat, dann kann eine Kirche strukturiert sein, wie immer man meint oder für nötig hält; ist die Liebe dort, so ist dies kein Problem. Wenn die Liebe fehlt, dann kann man auch eine ganz egalitäre Kirchenstruktur haben, scheinbar ganz frei und gleichberechtigt, es hilft trotzdem nichts. Wenn die Liebe fehlt, dann kann man auch die Bibel samt Sprachen auswendig beherrschen und mit jeder Textauslegung richtig liegen, man hat trotzdem nichts verstanden. Wenn die Liebe fehlt, kann man alles korrekt und gesetzestreu befolgen und meistern, man hat dennoch versagt.

Wahrheit findest du zwischen dir und Gott, auf diesem Pfad des Lebens, und zwischen dir und den Menschen. Sie ist das lebendige Feuer, das dort leuchtet, und sie passt in kein Gemäuer, in keine Agenda, in keine Konfession, in keinen Kelch. Du findest sie in der Gemeinschaft der Gläubigen, ohne dass diese sie jemals besitzen können. Nein, ich habe in keiner Einrichtung die Wahrheit gefunden - so sehr das manche auch von sich behaupten - aber unter so vielen Menschen, in so vielen Geschichten, Liedern und Andachten habe ich Wahrheit gefunden und bin bereichert worden. Es gibt so vieles zu entdecken und zu lernen, da ist kein Ende, und ich, ich bin wie ein Gefäß, das ständig überfließt und weiß gar nicht wohin mit alledem. Ich möchte in anderen dieses Interesse wecken, diese Faszination und Begeisterung, die in mir entfacht ist seit ich denken kann.

Sei achtsam. Wenn dir jemand kommt und erzählt, er wisse und verstehe alles, oder eine Gemeinde dir verkündet, sie habe die Wahrheit, sie sei die echte, einzige und wahre Kirche. Wenn Wahrheit dargeboten wird, als müsse man "fressen oder sterben"; du wirst sehen, wie solche an ihrer eigenen Überzeugung ersticken, weil sie den Hals nicht voll kriegen. Sie sind wie Leichen, wie gehorsame Kadaver, und du erkennst sie daran, dass ihre Worte, ihre Lehren tot und kalt sind. Ob mit Feuereifer und Leidenschaft vorgetragen, das ist egal, es ist alles tot, kalt und dunkel in ihnen. 

Sehen wir es nicht gerade in diesen Tagen wieder, wie Menschen sich an Verführer hängen, an blinde Blindenleiter, an falsche Propheten? Wie sie, da alles immer verworrener und schwieriger zu werden scheint, nach einfachen Antworten und Weltbildern suchen und ihren Kopf freiwillig ins Zaumzeug stecken und sich galoppieren lassen. Das war immer so, damals wie heute, es gibt nichts Neues unter der Sonne. Sei achtsam.

In der Bibel heißt es, wer durch Gottes Sohn freigemacht ist, der ist wirklich frei. Das darf man zur Abwechslung mal wörtlich nehmen. Gesetze aus dem dritten Buch Mose nimmt man wörtlich (ist ja auch christliche Hauptlektüre), oder dass Frauen in Gemeinden den Mund halten sollen, das nimmt man wörtlich; warum nimmt man nicht wörtlich, dass wir frei sind? Warum nimmt man nicht wörtlich, dass er uns Liebe geboten hat? Warum nimmt man nicht wörtlich, dass bei Gott weder Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Titel noch Bildung zählen, sondern dass sein Geist ausgegossen ist für alle Menschen?

Warum behandelt man Dinge, die einen bestimmten historischen und religiösen Kontext haben, als seien sie ewige Gesetze, und die ewigen Gebote, als seien sie situationsabhängig und stünden zur Debatte? Das war auch damals so: warum nahm man den Befehl "Du sollst die Zauberin nicht am Leben lassen" wörtlich, aber das Gebot "Brich mit den Hungrigen dein Brot" nicht?

Alldas gibt es und darin wird eben die Gesinnung von Menschen offenbar. Woran hält man sich und welchem Pfad folgt man? Uns ist das alles ja auch geschrieben und gegeben, aufdass wir uns selbst erkennen. Sei achtsam. 

Ja, sei achtsam, denn die Heilige Schrift ist ein ganz eigenes Thema, auf das sich so viele berufen, wenn sie sagen, sie würden ja nur wiedergeben, was "die Bibel sagt". Und du wirst folgende Rechnung häufig finden: "Die Bibel ist Gottes Wort. Ich sage nur, was die Bibel sagt. Also sage ich, was Gott sagt. Widersprichst du also dem, was ich sage, dann widersprichst du Gott." Diese Verblendung hat damit zutun, dass man weder gelernt hat, zwischen der Bibel und Gott zu unterscheiden, noch dass man gelernt hat, zwischen sich selbst und Gott zu unterscheiden, was noch wesentlich schlimmer ist. Denn die Bibel ist nicht Gott, sondern in den biblischen Schriften offenbart sich der göttliche Geist. Und der Prediger und Ausleger ist nicht Gottes Vertretung, sondern er nimmt aus diesem Schatz der Schriften, was er erkannt und verstanden hat, aufdass Menschen beim Zuhören dadurch bewegt, herausgefordert und vielleicht erweckt werden.

Du wirst, wenn du mit klaren Augen hinschaust, in der Bibel - von Menschen geschrieben - Unvollkommenes finden, Dunkles, Destruktives, Zeitliches. Und du wirst in ihr - von Gottes Geist inspiriert - Vollkommenes finden, Erleuchtung, Leben, Ewiges. Das macht die Faszination dieser Schriften aus, das macht sie zu einem lebendigen Buch. Das macht, dass es wirklich ein Schatz ist, und man beraubt sich dessen, wenn man ihn in Stein meißelt. Genauso, wie keine Kirche Gott in ihre Gemäuer einschließen kann, so kann auch kein Prediger Gottes Geist in den Buchstaben gefangen nehmen; es bleibt nur tote Lehre übrig. Sei also achtsam. Wenn es nicht redlich ist, wenn es nicht wahrhaftig ist, dann wirst du keine Ruhe mehr finden, wie sehr du dich auch mit Glaubenssätzen oder Dogmen immer wieder selbst beschwichtigst. Höre auf Gottes Geist.

Du wirst, wenn du dich damit beschäftigst, in der gesamten Kirchengeschichte bis heute unterschiedliche Debatten, Thesen und Schwerpunkte finden. Und die Fülle an Betrachtungen und Einsichten wäre nicht das Problem, sondern das Problem war es und ist es, dass oft das eine gegen das andere postuliert wird. So werden dir die einen sagen, die zentrale biblische Botschaft sei das Reich Gottes, andere werden sagen, die zentrale Botschaft sei die Vergebung der Sünden. Die einen werden sagen, das Zentrum sei die Rechtfertigung allein aus Glauben, die anderen, der Schwerpunkt liege auf der Heiligung, dem Lebenswandel und den Liebeswerken am Nächsten. Die einen werden sagen, man sei allein aus göttlicher Gnade und göttlichem Willen erwählt, die anderen, man müsse sich auch für den Herrn entscheiden und ein klares Bekenntnis äußern. Die einen werden sagen, wesentlich sei das Studium der Schrift, die anderen, wesentlich sei das Wirken des Heiligen Geistes ...

Das Fazit ist einfach: Alles. Und alles an seinem Platze. Denn manchmal bedarf der Mensch, dass man ihm eher dieses sagt, manchmal, dass man ihm eher jenes sagt; manchmal, dass er eher an dieses erinnert wird, manchmal, dass er eher an jenes erinnert wird. So kann man vielem zustimmen, weil vieles sein Recht und seinen Platz hat. Aber der Mensch kann oft nur schwer Maß halten und fällt meist von der einen oder anderen Seite vom Pferd. Sei achtsam, wenn man dich für eine einzige Theologie vereinnahmen will.

Nein, ich habe die Wahrheit nicht an einer Stelle und in einer Kirche gefunden, sondern in alledem, was ich zu beschreiben versucht habe, ist mir Wahrheit aufgeleuchtet und ich kann mich im Kreise drehen, ich sehe überall nur Horizont und Morgenröte. 

Und ich will achtsam sein und die Hände öffnen. Ich, der ich in diese Welt gekommen bin, ohne etwas bei mir zu haben, und der ich von ihr gehen werde, ohne etwas mit mir nehmen zu können. Der ich Staub und Erde bin, Erde und göttlicher Atem. 

 

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