Der Engel - Eine kleine Weihnachtsgeschichte

 Florian war sehr aufgeregt. Beim Abendessen war er fast geplatzt vor Aufregung und hätte Mama und Papa beinahe davon erzählt, was er vorhatte. Aber er konnte sich dann doch noch zusammenreißen und sein Geheimnis für sich behalten. 

Es war der Weihnachtsabend. Sie hatten zusammen gegessen - Kartoffelsalat mit Würstchen, das liebte Florian. Dann hatten sie einen Weihnachtsfilm geschaut, Spiele gespielt und Mama hatte Florian die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Alles funkelte und glänzte schon seit einiger Zeit in ihrem kleinen Haus, das Mama mit Lichtern und Kerzen geschmückt hatte, mit Gestecken aus Tannenzweigen, getrockneten Orangenschnitten, Nüssen, Johannisbeeren und Zimtrinde. Auf bunten Tellern lagen Kekse, Lebkuchen, Gummibärchen und Mandarinen. Das Schönste aber war der Weihnachtsbaum. Er strahlte und leuchtete still in der Ecke des Wohnzimmers vor dem Fenster und verströmte diesen Duft im Raum, den Duft von Wald, von Holz, von Schnee und Kälte und gleichzeitig von Wärme und Behaglichkeit; der Duft von Weihnachten. Alles, was man in dieser Weihnachtszeit sehen, fühlen und riechen konnte - draußen in der Kälte und drinnen im warmen Haus - war in diesem Duft zusammen.

Und heute Nacht war es soweit. Heute Nacht um Mitternacht würde der Weihnachtsmann kommen, wenn alle schlafen, und würde ins Haus schleichen und die Geschenke unter den Baum legen ... So erzählt man es sich, hatte Papa immer gesagt und gelächelt. 

Und Florian war aufgeregt. Aufgeregt und fest entschlossen. Er wollte wach bleiben und sich um Mitternacht ins Wohnzimmer schleichen, um nachzusehen, ob der Weihnachtsmann wirklich da ist und die Geschenke unter den Baum legt. Er wollte ihn überraschen, sodass er sich nicht verstecken konnte, und ihn sehen. 

Als Mama ihm am Abend die Weihnachtsgeschichte vorlas, lag er schon im Bett, war total gespannt, aber auch schon ein bisschen müde. Er musste durchhalten. Er durfte nicht einschlafen und die Mitternacht verpassen. Mama las den letzten Satz der Geschichte: Und die Hirten kehrten zurück zu ihren Schafen und freuten sich über alles, was sie gesehen und gehört hatten. Dann klappte sie das Buch zu.

So, gute Nacht, mein Schatz! Träume was Schönes, sagte sie und gab Florian einen Kuss.

Mama, kommt heute Nacht der Weihnachtsmann?, fragte Florian. Mama lächelte ihn mit ihren schönen braunen Augen an und flüsterte dann: Wer weiß? Es kommt jemand und bringt die Geschenke für uns. So, und nun wird geschlafen. Ich hab dich lieb!

Florian überlegte, wartete, wartete und überlegte. Er schaute in seinem Kinderzimmer hin und her, an die Decke, zum Fenster, zur Tür, die einen Spalt offenstand. Er lauschte, hörte Mama und Papa reden und Geschirr in der Küche klappern. Er sah auf den bunten Wecker neben sich. Der große Zeiger war ein bisschen nach Zwölf und der kleine Zeiger war auf der Neun. Er musste warten, bis beide Zeiger auf der Zwölf waren, das wusste er. 

Die Zeit verging. Das dauerte alles so lange. Florians Augen wurden immer schwerer, so im Liegen. Er stand auf und ging leise zur Zimmertür, um schonmal zu horchen und zu gucken, ob er irgendwas sah. Als er an der Tür war, hörte er Mama den Flur entlanggehen und huschte schnell zurück ins Bett und warf die Decke über sich. Er kniff die Augen zusammen, wartete gespannt, hörte noch ein paar Geräusche, dann wurde es still ...

Als Florian nach einer Weile die Augen wieder öffnete und sich im Bett aufsetzte, war alles sehr ruhig und dunkel im Haus. Nur sein Nachtlicht, ein orangener Käfer, schien im Zimmer. Er rieb sich die Augen und als er auf seinen Wecker schaute, erschrak er: beide Zeiger waren oben auf der Zwölf.

Er stand auf und schlich zur Tür, öffnete sie etwas mehr und blickte vorsichtig auf den dunklen Flur. Alles war still. Hinten, am Ende des Flurs, leuchtete ein sanftes Licht aus dem Wohnzimmer. Mit großen Augen ging Florian langsam und leise auf den Flur hinaus. Langsam, Schritt für Schritt, ging er auf den Eingang des Wohnzimmers zu und hielt immer wieder inne, um zu lauschen, ob er irgendetwas hörte ... Alles still. Nur sein Herz klopfte und alles in ihm kribbelte vor Aufregung.

Am Ende des Flurs beugte er sich vor und sah in das Wohnzimmer hinein. Auf der Fensterbank strahlte ein Lichterbogen, den Mama und Papa nachts immer an ließen. Daneben ragte der schöne Weihnachtsbaum empor. Seine roten, goldenen und silbernen Bänder, Kugeln und Schleifen glänzten im sanften Licht. Am Boden unter dem Baum sah Florian Geschenkpapier glitzern. War es doch schon zu spät? War der Weihnachtsmann doch schon dagewesen? 

Dort! Dort hinter dem Weihnachtsbaum hatte sich etwas geregt! Florian war sicher. Er schaute genauer hin, konnte aber nichts richtig erkennen. Er ging gespannt näher auf den Baum zu. Dahinter war jemand. Er hielt den Atem an, ging näher ... und näher ... sein Herz klopfte stark in seiner Brust ... noch ein Stück näher ... Er sah lange dunkle Haare, die über einem weißen Gewand an den Schultern herabfielen und im Licht goldbraun schimmerten. Zwischen den Zweigen des Weihnachtsbaumes blickten ihn zwei schöne braune Augen an. 

Florian lächelte ein wenig und sein Herz wurde wieder ganz ruhig. Alles war still und alles war schön in diesem sanften Licht. Dann drehte er sich um und ging leise wieder in sein Zimmer. Er kroch in sein Bett, kuschelte sich in seine Decke und ganz bald schlief er ein. Und er träumte, es sei ein Engel gewesen.



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