Rachamim (hebr. "Erbarmen, Mutterschoß")

Du magst Dich vielleicht manchmal gefragt haben, warum ich schon über so manche Menschen, Erinnerungen und Themen geschrieben habe, die mir lieb sind oder mich umtreiben, aber noch nie über Dich. So vieles fechtet der "kluge Junge" durch, steigt in die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen, vergeudet sich und versäumt doch zuweilen das Näheste, das Augenscheinlichste, nicht wahr? Ich versäume nichts. 
 Was soll ich Dir denn sagen? Was soll ich Dir denn schreiben? Wie soll ich Dir denn danken für das, was Du für mich getan hast oder Dir irgendwas vergelten? Deshalb bleibt vielleicht so oft so vieles in Liebe und Stille ungesagt.
 Du hast alles gut gemacht. Ich hoffe, Du weißt: Du hast alles gut gemacht! Du gehörst noch zu der Generation, in der man glaubte, dass man nicht genug getan habe und in der Selbstzufriedenheit eine Sünde war. Ein Leben in der ständigen Spannung zwischen Pflicht und Befreiung. Und bei Dir war die Pflicht stets mächtiger als die Befreiung. Was will man auch mit Leuten, die ständig damit beschäftigt sind, sich selbst zu befreien? Die hinterlassen nur verwahrloste Kinder. Du hast alles gut gemacht!
 Deine Weisheit und Stärke sind irdisch und tief. Du hast ein angeborenes Wissen um die Entbehrungen des Lebens und der Tod ist Dein Vertrauter, seit Du als Kind mit auf Friedhöfe gehen musstest. Und Du weißt, wo viel Wissen ist, da ist viel Grämen. Du liebst die Menschen und kennst ihr Schicksal. Diese Bürde musst Du tragen, dass Du das Schöne des Lebens und Deine so geliebten Menschen so zu schätzen und zu genießen weißt, sie aber immer freigeben musst, denn nichts ist von Dauer und alles muss sterben.Wenn doch nur mehr Menschen dies endlich verstehen würden.
 Eine bessere Schule gibt es nicht. Warum Dir das gegeben ist - und mir solch eine Mutter - wer ergründet das? Ist es göttlicher Funke oder standen einfach nur die Sterne so? Wohl beides und wir beide verstehen das. Wir waren ja schon immer so eingeschworen.

Jetzt habe ich zwei Söhne. Und sie holen mir unentwegt Erinnerungen und Fotos aus Kindertagen aus dem Herzen, und ich darf so vieles auf so schöne und süße Weise nochmal haben und verstehen.
 - Da liegt ein Sohn mit seiner Mutter auf der Wiese im Garten, an den blauen Sommerhimmel schauend und lauschend, welche Autos die Nebenstraße entlangfahren. Da bittet er sie, ihm den Text zum 20:15-Spielfilm aus der Fernsehzeitung vorzulesen, wohl einfach nur, weil er das Bild dazu schön findet oder es ihn beschäftigt. Da sagt sie ihm, abends auf der Couch im Wohnzimmer ausruhend, er solle doch "leiser" machen, denn das Licht hatte einen Dämmerknopf und "laut & leise" bedeutete bei uns "hell & dunkel". Und so vieles mehr. - Woher ich das noch weiß? Weil das, was den Erwachsenen beiläufig erscheint, den Kindern oft ein ganzer Kosmos ist, eine andere Erfahrung von Raum, eine andere Erfahrung von Zeit. Die Welt eines Kindes ist unermesslich groß, weil noch nichts darinnen ist, weil noch nichts beurteilt und noch nichts verurteilt ist, und es kann eine Lebensaufgabe werden, sich das niemals nehmen zu lassen, sondern alles auszugießen und umzukehren in eine Welt, da alles Staunen und Wunder ist. Die eigenen Kinder sind der Knotenpunkt an Vergangenheit und Zukunft, und was die Eltern nicht vollkommen lehren konnten, das tun dann sie. Du hast alles gut gemacht!
 Und ich, ich danke Dir, weiß nicht, was ich sagen, was ich schreiben, wie ich einmal zurückgeben soll. Wären da nicht Arme gewesen, die mich trugen und Hände, die mich hielten, Gedanken, Freude und Sorgen, die mich auf jedem Weg begleiteten und dieses unbezwingbare Herz, das alles eigene Ansehen für den Sohn ignorierte, was wäre nur aus mir geworden? Unter einer anderen Vorsehung, unter anderen Sternen, was wäre nur aus mir geworden?

Du hast alles gut gemacht.


 

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