Lazarus

... und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens ... (Offb 3,5)

Der Evangelist Lukas berichtet uns von einem Gleichnis Jesu, das von allen anderen abweicht und nur bei ihm zu finden ist: es gehört zum sogenannten lukanischen Sondergut. Jesus erzählt es - wie so oft - den selbstgerechten Pharisäern:
 Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre. Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. 
 Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen.
 Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet und du wirst gepeinigt. Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.
 Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.
 Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. 
 Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. 
 Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde. (Lk 16,19-31)

Dieses Gleichnis beendet das 16. Kapitel von Lukas und schließt an ähnliche Reden Jesu an, wo er von Unehrlichkeit, von Treue und von Selbstgerechtigkeit spricht (Lk 16,1-18). Die Besonderheit hier ist, es ist eigentlich kein typisches Gleichnis, denn die Figuren hier haben Namen - Lazarus und Abraham. Der Grund dafür ist aus dem, was die Geschichte vermitteln will, leicht erkennbar: der Arme erhält einen Namen, Lazarus ("Gott hat geholfen"), der Reiche hat keinen Namen; und wohlgemerkt wird der Name des Armen nicht erst im Paradies genannt, sondern zu Lebzeiten.
 Jesus geizt - wie so oft - nicht mit sehr deutlichen Bildern, Worten und Kontrasten, um klarzumachen, welchen Ernst das Erzählte hat. So ist ein Mann, der sich damals in Purpur kleidete, nicht einfach nur ein "Besserverdiener", sondern solch ein Mann ist unfassbar reich.
 Vor dessen Hause war Lazarus. Zu essen, was "von dem Tisch des Reichen fiel" bedeutet schlicht und einfach, dass er die Abfälle durchsuchte, um etwas Essbares zu finden. Lazarus war voller Geschwüre; die Krankheiten oder der Aussatz war und ist in solchen heißen Ländern eine jämmerliche Qual (man lese vergleichsweise dazu Hiob). Und die Hunde, die zu Lazarus kommen, sind nicht unsere Haustiere von heute mit glänzendem Fell und fast schon menschlichen Allüren, sondern Straßenköter, wild und meist selber krank und ansteckend. Die drastischen aber sparsamen Sätze solcher Gleichnisse rufen immer auch die Vorstellungskraft der Leser auf; es wird nicht alles im Detail beschrieben wie in einem Roman. Wer mal auf Mallorca war und die belebte Strandpromenade verlassen hat und die Straßen hoch ins Landesinnere gegangen ist, der kommt meist irgendwann an Brachgebiete hinter den Häusern. Karge, trockene Flächen mit tiefen maroden Mäuerchen, wo alles von Grillen, Fliegen und Mücken summt. Geht man dort kurze Zeit, rotten sich langsam Hunde oder Katzen zusammen und folgen einem beharrlich. Und unsere Eltern werden uns gesagt haben, wir sollen weitergehen, und unseren Kindern werden wir sagen, sie sollen weitergehen; und man ist erleichtert, wenn sie endlich von einem abgelassen haben ... Da bekommt man einen minimalen Eindruck von dem, was hier in dieser Erzählung beschrieben ist. Dies sind seine Gesellen.
 Die Hunde ließen von Lazarus ab. Er starb. Und Jesus benutzt hier ein Bild, das den Pharisäern, mit denen er sprach, allzu geläufig war: Abrahams Schoß. Abrahams Schoß ist den Israeliten und den Schriftgelehrten damals ein Bild für das Paradies oder auch schlicht das "Versammelt werden zu den Vätern". Jesus belässt es aber nicht bei dem Bild, sondern lässt Abraham dann als Person maßgeblich mitwirken in der weiteren Erzählung. Dies tut er absichtlich gegenüber den Pharisäern und Schriftgelehrten, die sich mehrmals an mehreren Stellen auf ihren "Vater Abraham" berufen.
 Auch kehrt hier etwas anderes wieder, das wir aus der Versuchung Jesu in der Wüste kennen: Lazarus wird von den Engeln getragen. So sagte es der Satan zu Jesus, er solle sich vom Tempel hinabwerfen, denn die Engel würden doch ihn, den Sohn Gottes, auf ihren Händen tragen (Lk 4,1-13). Mit dem Tode ist Lazarus dem Übel, der Ungerechtigkeit und Gleichgültigkeit dieser Welt entbunden und wird getragen von dem, der Herr und Richter über alles Leben und alles Geschick ist. Unterworfen, verachtet und ungesehen im Leben, wird ihm alles gewendet und verwandelt, und was ihm ein Leben lang verborgen war, wird ihm nun offenbar für immer: Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust. (Hiob 19,25-27) Von Lazarus also wird gesagt, er wurde getragen (von Engeln) - von dem Reichen wird gesagt, er wurde begraben (von Menschen); aber Gott kennt eure Herzen; denn was hoch ist bei den Menschen, das ist ein Gräuel vor Gott (siehe Lk 16,15).

Der Reiche ist in der Hölle und ist nicht, wie manche sagen, in einer "Gottesferne" oder Abwesenheit, sondern sieht Abraham und Lazarus, aber unüberwindlich getrennt von ihnen. Denn diese Orte sind Orte der Erkenntnis: Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis.
 Die ersten Worte des Reichen an Abraham sind sehr bezeichnend. Zum einen illustrieren sie seine Pein, wenn er doch nur einen Tropfen Wasser auf seiner Zunge zur Linderung begehrt, zum anderen nennt er Lazarus beim Namen: "erbarme dich meiner und sende Lazarus ...". Er kannte den Namen dessen, der da vor seiner Tür gelegen hatte, der in seinem Müll gegraben hatte, der vor seinen Mauern dahingesiecht war; das ist bitter. Ebenso ist nun das Dasein des Reichen bitter.
 Abraham macht ihm nüchtern das Gesetz von Saat-und-Ernte, von Unrecht und Rechtschaffung klar: der Reiche hat sein Wohl gehabt, seine Ehre und seine Größe, kannte den Leidenden mit Namen und beachtete ihn nicht; nun sucht Gottes Gerechtigkeit ihn heim, ein Gegenüber, dem man nicht mehr ausweichen kann, und die Pein ist nicht Gottes Abwesenheit, sondern seine Gegenwart (Offb 14,10.11). Weiter weist Abraham den Reichen darauf hin, dass zwischen ihnen ein Abgrund ist, den sie nicht passieren können, es also kein Zueinander geben könne. Auffallend aber, dass Abraham den Reichen "Sohn" nennt, zwar nüchtern und klar mit ihm spricht, aber nicht ohne Zärtlichkeit. Denn es hat sich daran nichts geändert: der Reiche - aus dem Volke Israel - ist ein Sohn Abrahams, der Stammvater der Hebräer. Ähnlich wie grade erläutert von der Gegenwart Gottes, ist auch hier wohl die Anrede als "Sohn" das schmerzvollste an dem Ganzen.
 Der Reiche, der für sich selbst nichts mehr erbitten kann, bittet dann für die, die ihm lieb und teuer sind: seine Brüder. Lazarus soll ihnen erscheinen und sie warnen; vermutlich leben sie genauso wie ihr Bruder einst. Abrahams Antwort ist nun wieder eine deutliche Ansage an die Gelehrten, die Jesus zuhören: "Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören ..." - Bezogen auf die Brüder in der Geschichte heißt dies: Sie wissen, was Recht ist, was Unrecht ist, und dass Gott einst richten wird; bezogen auf die Pharisäer als Zuhörer heißt dies zudem: Sie wissen, was bei Mose und den Propheten von dem Messias gesagt ist, von dem nahenden Reich Gottes, dem Ruf zur Umkehr und dem Gericht.
 Denn es folgt ein letzter Wortwechsel: der Reiche meint, dass die Erscheinung eines aus dem Totenreiche seine Brüder gewiss bekehren werde von ihren falschen Wegen. Doch Abraham antwortet ihm, dass auch einer, der von den Toten auferstanden sei, sie nicht überzeugen werde. Dies ist, verborgen im Gleichnis, ein Hinweis auf den Erzähler selbst, Jesus, der den Pharisäern damit sagt: Ihr glaubt mir wegen Mose und den Propheten nicht, ihr glaubt mir wegen meiner Worte und Werke nicht, ihr werdet auch nicht glauben, wenn mich mein Vater aus den Toten auferweckt.

Lazarus spricht in der ganzen Erzählung kein Wort mit dem Reichen, ist aber ständig der Adressat. Denn der Reiche bittet nicht Abraham oder irgendwen, ihm Wasser zu bringen oder die Brüder zu warnen, sondern er bittet, dass Abraham Lazarus schicke. Doch Lazarus selbst ist dem Reichen gegenüber vollkommen beziehungslos. Er sitzt, heißt es, in Abrahams Schoß. Und wie er zuvor vor der Türe des Reichen gelegen und keinerlei Ansehen hatte, so sieht er nun diesen Reichen nicht. Wie er bekannt war und gleichsam nicht gekannt wurde, so kannte er den Reichen ... und kennt ihn nicht.

Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. 
 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben. (Mt 25,42-46)  












Kommentare

Beliebte Posts