Wunderschöne Unvollkommenheit

"Die Welt ist so schön und wert, dass man um sie kämpft ..."
(Ernest Hemingway, Wem die Stunde schlägt, 1940)


Gottes Vollkommenheit und die natürliche Unvollkommenheit bilden die Welt, die wir heute sehen. Wir schauen hier sozusagen die Venus von Milo an - ein sinngemäß ähnliches Gleichnis las ich mal bei einer Fotografin und mir gefiel es sehr gut. Ein wunderschönes Meisterwerk, doch fehlen ihr die Arme. Sie ist ein Torso. Was erhalten ist, zeigt unverkennbar die Meisterschaft des Künstlers - nach wie vor sein Werk - doch verletzt und zerbrochen.
 Denn Erde bist du und zu Erde sollst du werden (Gen 3,19) Was der ganzen Natur eingestiftet ist, erkennt der Mensch mit dem Selbst-Bewusstsein, dass er einmal sterben muss und alles vergänglich ist. Ein Gesetz, dem sich das Tier treu und ohne Hader unterwirft, weckt im Menschen lauter Fragen und diese Geheimnisse treiben ihn um, seit er denken kann, sind Urquelle aller Suche, allen Fragens und Forschens, aller Religion und Philosophie, ebenso aller Scharlatanerie, Verführung und Verblendung: das Wunder des Lebens ansich, die Liebe und der Tod. Oder geläufiger ausgedrückt: Woher wir kommen, wohin wir gehen und was der Sinn unseres Daseins ist. Und was der Mensch letztlich (meistens, muss man ja immer fairerweise dazusagen) sucht, ist Versöhnung. Versöhnung mit sich selbst, Liebe und Anerkennung anderer, am Ende auf sich selbst und sein Leben zurücksehen und sagen zu können: Es ist gut. Man hat Frieden und kann sich dem hingeben, der Wache hält über alle Dinge, von dem alles kommt und zu dem alles gehört, der ewige Geist. Es sei gut und es sei nur ein Einschlafen, bis seine Stimme einen wieder erweckt in einer Welt, in der keine Entbehrung und kein Verlust mehr existiert, aller Lebenshunger und aller Daseinsdurst befriedet ist. Und es stimmte die Ahnung, die mancher seit Kindertagen in sich trug, dass es kein Nichtsein gebe und auch der Tod ist nur sein Knecht.
 Gute und heilsame Lehre weiß immer auch, dass wir unvollkommen sind und verfehlen. Nicht verfehlen am religiösen Ritus, an der spirituellen Meisterschaft, an den gesellschaftlichen Normen, den Paragraphen oder den Erwartungen der Mitmenschen (was alles nur falsche Götter sind), sondern verfehlen am Menschsein, an uns selbst, an der unumstößlichen Ethik, an Gott.
 Denn was soll gut sein, als Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung, diese so abgenutzten Worte, denen viele "Weltkenner" Naivität und Dummheit zusprechen, weil sie nur wissen und sehen, dass das Leben ein ständiger Kampf ist?
 Was soll rechte Einsicht sein, alsdass man in jedem anderen Menschen sich selbst erkennt und in sich selbst jeden anderen Menschen? Dass ein jeder genauso ungefragt in diese Welt geboren wurde, niemals gewählt und entschieden hat, wo sein Platz sei, wo sein Land, wes seine Kultur, seine Religion, und ob er überhaupt erwünscht war und geliebt von irgendwem. Dass alle eine Schicksalsgemeinschaft teilen, sich freuen und trauern, suchen und fragen, glücklichsein wollen und Abschied nehmen müssen von denen, die sie lieben. Und ein jeder sucht kreativen Ausdruck, spürt in Wissenschaft, Architektur, Handwerk, Malerei, Musik, Literatur oder Schauspiel diesem Geheimnis nach, das keine Rasse hat, keine Hautfarbe, keine Nation, keinen Guru und keinen Diktator, sondern unverfügbar bleibt.
 Was soll Gewahrsein und Verantwortung sein, ohne dass man begreift, dass Natur und Tiere für uns sterben? Alles ist uns zur Hege und Pflege anvertraut und diese Welt ist unsere Heimat. Das Wesen, das Geist hat, muss dies begreifen, also der Mensch, denn wer soll es sonst tun? Alle anderen Lebewesen gehorchen, nur wir nicht. So leiht die Youtuberin Cassandra der Natur ihre Stimme und lässt sie mahnen: (...) Ich habe schon größere Wesen als euch ernährt. Ich habe schon größere Wesen als euch verhungern lassen. Meine Böden, meine Flüsse, meine Wälder ... sie alle können euch ertragen oder es lassen (...) (Cassandra 13: Die Stimme der Natur)

Aber unverbesserlich ist der Mensch. Er weißt längst alles, hat die Erkenntnis von Gut und Böse, doch darüber zu regieren vermag er nicht. Und so wird er zwischen diesen Kräften aufgerieben und weiß nicht, wo er hin soll und findet keine Ruhe. Seine Gottheit fordert von ihm, dass er rein und unfehlbar sei, denn sonst kann er nicht bestehen. Sie fordert Kult und Blut, Opfer und Leichengehorsam. Er muss die magischen Formeln kennen, um die Naturkräfte zu beherrschen, die richtigen Speisen essen oder im richtigen Verhältnis zur Sonne sitzen. Er muss sich selbst hassen und den Feind ausrotten. Der Böse ist immer der andere und wenn ihm gesagt ist, er solle auch seine Feinde lieben, so ist es eine Tugend um der Religion und der eigenen Seligkeit willen.
Über Jahrtausende misshandelt und enttäuscht, kehrt er sich ab und will lieber ganz vergehen - wenn er denn schon sterben muss - und wie die Blätter vom Baum fallen. Und was er verehrt ist Sternenstaub, Feuer, Wasser, Stein und Holz. Das Klima ist die neue Religion, CO2 der neue Satan, und plötzlich ist man darauf gekommen, dass die Erde ein lebendiger Organismus ist, der atmet - welche Erkenntnis ... Andere suchen ihre Identität in Blut, Boden und Nation, und wecken die modrigen Geister aus ihren kleinen Vorgärten oder ihren Plattenbauten, die niemals fort waren, sondern sie stets begleitet haben wie treue, heimliche Gewissheiten.
 Wie auch immer das Licht auf ihn fällt, er wird seinen Schatten ja nicht los. Bei aller Aufklärung glühen immernoch uralte Konflikte, Israel und Ismael, Kreuzritter und Dschihadisten, Kreationisten und Materialisten, Klerus und Schwärmer, und dergleichen. Besonnene Unterscheidung fällt dem Menschen schwer, entweder ist der andere der Todfeind oder es ist alles einerlei. Man löst sich auf wie der Tropfen im Meer oder aber muss den Sündenbock haben, um selbst ein Heiliger sein zu können. Gleichgültigkeit ist genausowenig Toleranz, wie es die Überwindung des Bösen ist, den Teufel an die Wand zu malen.
 Die Erlösung, glauben einige, ist die Vermählung von Mensch und Maschine, die Aufzucht eines neuen Wesens, und sich damit endgültig von der eigenen Natur und dem, was Menschheit bedeutet, zu verabschieden. Keine Unvollkommenheit mehr, kein Gebrechen mehr, kein Sterben mehr, kein Geheimnis und nichts mehr von dem, was den Menschen bislang noch schulen soll, sich selbst zu erkennen, Liebe, Hingabe und Demut zu lernen und sich auszusöhnen.
 Die Infragestellung dessen, was der Mensch eigentlich ist, wird nun schon länger gepflegt und gilt als neue Freiheit. Sich selbst zu designen, zu inszenieren und hinter den Masken zu verwischen was es heißt, man selbst zu sein. Und in seinen eigenen Untiefen und Abgründen wird er sich verlieren. Er sucht Unsterblichkeit, doch nicht in Gott, in seinem Glauben und seiner Hoffnung, sondern in diesem Leben hier; gibt es eine schlimmere Hölle, als dieses irdische Leben ewig zu verlängern? Mit der Technologie hat er sich sein Allsehendes Auge geschaffen, seinen Gott, der alles sieht, alles hört, alles weiß. Auf das Jenseits will man sich nicht vertrösten lassen, man will es selber machen, denn man ist letztlich nur Fleisch und Knochen, und Geist ist nur Information im System.
 Nun aber, dass er nicht noch ausstrecke seine Hand und nehme auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! (Gen 3,22)

Ach Menschlein. Hast du nicht erkannt, was als lauter Metaphern in die Natur und dein Leben gezeichnet ist? Denn vom ersten Tage an lebst du aus Hingabe und Vertrauen, worin alle Erfüllung und aller Frieden liegt, wenn man es begriffen hat. Was immer du auch versuchst, du wirst nichts behalten können, sondern alles verlieren, es sei denn, du gibst dich dem hin, dem alles gehört und bist verbunden mit ihm. Dieser Lebenskampf wird hier nicht enden und der Mensch wird diese Welt nicht retten. So bedauerlich das auch ist, Jahrtausende Erfahrung an Menschheitsgeschichte sprechen für sich und gewonnenes Wissen kann man nicht mehr abweisen. Wer Einsicht hat, der weiß, dass allein der Schöpfer dieses Werkes es vollenden wird. Damit ist man nicht den Widrigkeiten des Lebens enthoben, aber hat Frieden in seiner Seele und sieht in alledem hier eine wunderschöne Unvollkommenheit, faszinierend, bitter, und ach so teuer und so lieb.    

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