Hört mich jemand?

Er musste sich wirklich ein Herz fassen. Und während er auf dem Weg war und in einiger Entfernung die vielen Menschentrauben sah, die sich auf der Wiese und vor der breiten Treppe des Reichtagsgebäudes tummelten, dachte er mehrmals daran, es aufzugeben und wieder umzukehren. Doch die Füße trugen ihn wie von selbst und den Blick über die Leute schweifend sagte er sich, er könne ja immernoch einfach nur einer von vielen Besuchern, Demonstranten oder Zuschauern sein; er müsse ja nicht sprechen, sondern wäre dann halt einfach da und ginge irgendwann wieder. Wenn man keine Pflicht oder Berufung hat, entschuldigt man sich auf diese Weise zuweilen, dass man der inneren Stimme nicht gefolgt ist.
 Es war ein bunt gemischter, exotischer Mob, der sich dort sammelte, in dem man keine Parteien, keine Lager, keine Freunde und Feinde wirklich ausmachen konnte. Manche saßen in Grüppchen und Kreisen auf der Wiese, manche liefen vereinzelt herum, ihre Plakate hochhaltend und Parolen rufend: "Gegen die Unterdrückung durch das System! Gib Gates keine Chance! Wir schaffen Das, Angela Ferkel! Das wahre Virus sitzt im Bundestag!", und dergleichen mehr. Kamerateams säumten den Platz, manche filmten bereits, manche bereiteten sich vor, einzelne machten kurze Interviews mit bereitwilligen Demonstranten. In den Mengen zerstreut waren Polizisten unterwegs, in voller Montur und mit aufmerksamen, angespannten Gesichtern, deren Rückhalt in zwei großen Bussen am Rande des Platzes bereitstand. Die Luft knisterte, war aufgeladen von dieser bedrohlichen Energie, die nur Kollektive erzeugen können.
 Er hielt inne und stand da, seine Sinne verblassten in kurze Geistesabwesenheit. Das geschah ihm oft bei größeren Menschenmengen, auch in der Fußgängerzone; ihm war das meist zuviel, er konnte sich nicht gut in der Masse aufhalten.
 Ein als Indianer verkleideter Mann hämmerte auf einer kleinen, mit einem bunten Mandala bemalten Trommel herum und rief laut in den Mob: "Seid nicht länger Sklaven des Systems! Kehrt zurück zur Natur und zur freien Liebe! Lebt der Natur gemäß! Es ist unsere Natur, zu lieben und frei zu sein!" Liebe, wiederholte er im Stillen und fasste sich wieder ...
 Er schritt durch die Leute. Es gab nicht nur Indianer, sondern allerlei buntes Gemenge und ein lebhaftes Durcheinander an Subkulturen, Rocker, Punks, Raver, Leute in Kutten, Endzeitpropheten, Evangelikale, Libertäre und zu Fleisch und Blut erwachte Mangafiguren, Wege und Abwege der Menschenkinder.
 Eine alte Kiste hatte er sich mitgenommen, hatte zuhause in seiner kleinen Wohnung Probe gestanden und zu seinen Möbeln gesprochen und irgendwann geglaubt, vorbereitet zu sein. Doch als er sich jetzt auf die Kiste stellte, seinen Speakers Corner, er auf das Getümmel sah und ein paar teilnahmslose Blicke ihn streiften, da entglitt ihm alles, rann ihm alle Übung wie Wasser durch die Finger und seine Lippen wurden taub und die Zunge schwer. Was für eine dämliche Idee. Wen scherte es denn? Noch konnte er sich retten, dachte er. Irgendein Depp, der halt bei einer Demo auf eine Kiste steigt und rumguckt - es gab Schlimmeres.
 Was er zunächst nicht merkte war, dass seine Stille, sein nachdenkliches Verharren auf dieser Kiste nach und nach die ersten Augen an ihn heftete. Und als sein versonnener Blick sich wieder schärfte, traf er das hübsche, bunte Gesicht eines Hippiemädchens, die ihm fast unmerklich zunickte. Er lächelte sie sachte an, atmete tief ein, blickte zum Himmel hoch und dann wieder auf die Menschen.

"Hört mich jemand?", sprach er, doch mehr zu sich selbst, und schaute umher.
"Hört mich jemand!?!", brüllte er und lauter Leute wandten sich zu ihm. Er betrachtete sie und setzte nach:
 "Hört mich jemand?! Denn auch ich möchte gehört werden. Auch ich möchte, dass man mich anhört, mich ansieht, dass man mir ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt um meinetwillen! Genauso wie ihr. Genauso wie ihr, die ihr hier seid." Jetzt setzte langsam eine Kettenreaktion ein und nun konnte er sich nicht mehr retten. Er war verloren im erwachenden Interesse.

"Denn warum seid ihr hier? Manche vielleicht wirklich nur aus Schaulust, aber die meisten doch eigentlich, weil sie gehört, weil sie gesehen werden wollen. Weil ihr wollt, dass man euch Aufmerksamkeit schenkt, dass sie euch Aufmerksamkeit schenken, dass sie hören und sehen, was euch bewegt. Weil die Masse für die Meinung, was das Megaphon für die Stimme ist, deshalb macht man Demonstrationen. Überdrüssig seid ihr! Ihr habt es über! Überdrüssig der Bilder, überdrüssig der Stimmen, überdrüssig der Meinungen, überdrüssig der vagen Aussagen, die keine klare Antwort auf eine Frage geben, sondern immer in die Erklärung von Umständen abgleiten und auf die Planungen und Besprechungen vertrösten, die noch geschehen müssten."
 "Genau!", brüllte irgendwo jemand aus der Menge.

"Ich bin gekommen, um euch zu sagen, was der tiefere Grund für alldas ist, was euch hier versammelt, was euch zusammenrottet und euch - die ihr so unterschiedlich seid - einander so gleichmacht. Manche wird das wahrscheinlich zornig machen. Überhaupt, dass da jemand kommt und sagt: Ich sage euch den Grund!, und meint, dies zu wissen.
 Ist es vielleicht viel komplizierter, vielschichtiger, facettenreicher? Aber genau das wollt ihr doch auch nicht als Antwort hören, wenn ihr hier eure Parolen schreit! Also erlaubt ihr mir vielleicht auch, dass ich es versuche, und euch die Erklärung gebe. Ist es Unsinn, was ich rede, dann schüttelt ihr den Kopf, wenn ich fertig bin, und macht weiter wie zuvor und ich gehe und habe eben meinen Auftritt gehabt. Ihr könnt es ja als Lacher des Tages ins Netz stellen und euch darüber auslassen: Schon wieder so ein Prediger, schon wieder so ein Volksverführer! - Ja, vielleicht kann ich euch verführen! Vielleicht kann ich euch betören! Ihr werdet ja sonst durch nichts verführt, nicht wahr?" Er hielt inne, schaute sich um und da der überwiegende Teil in seinem Umkreis schwieg und wartete, nahm er dies als ihr Einverständnis.

"Der Grund für eure Gemeinschaft hier ist Angst. Der Grund für eure Welterklärungen ist Angst. Der Grund für euren Zorn gegen den unsichtbaren Feind, gegen die geheimen Drahtzieher und Machenschaften ist Angst. Angst ist es, die eurem Feind eine Gestalt geben muss, ein Gesicht, einen Namen, einen Plan. Denn Gewissheit lindert Angst und deshalb müsst ihr Gewissheit haben, koste es, was es wolle.
 Und diesem Feind verkündet ihr hier euren Ungehorsam, ihr nennt seine vielen Namen, ihr sprecht seine Machenschaften aus, ihr entledigt euch der Ketten, des Systems, in welchem er euch gefangen hält. Ihr seid so ungehorsam und in Wahrheit seid ihr so gehorsam! Ihr habt euch blenden lassen und seid so gehorsam! Ihr seid so rebellisch und lasst euch nichts mehr sagen und in Wahrheit lasst ihr euch, treu und gehorsam, ganz genau vorschreiben, wie die Dinge sind und was ihr tun sollt. Oder ist irgendjemand hier selbst auf diese Gedanken gekommen, die diesen Platz erfüllen, die dieses Mischwesen aus Vorstellungen zusammengeflochten haben, diesen Geist, der euch alle vereint?
 Habt ihr euch das schonmal gefragt? Habt ihr den unsichtbaren Feind - und es gibt einen - habt ihr ihn wirklich erkannt? Er wohnt in eurem Herzen, in dem Abgrund eurer Seele. Und wie das Wasser dem Gefälle folgt, so folgen eure Gedanken diesen Furchen in die Tiefe, und ihr erkennt nicht, wo ihr seid. Ihr meint, es sei außerhalb von euch. Dieser Feind wird nur durch Angst, Zorn und Gewalt befriedigt, niemals durch Besinnung und Klarheit. Er will euch keine Ruhe geben, keine Kraft, keine Zuversicht, keine Hoffnung, und Gewissheit nur, wenn sie euch zornig macht, wenn sie euren Blick ablenkt und den Feind woanders anzeigt. Vielleicht könnt ihr es euch schon denken, vielleicht wollt ihr lachen: Wir nennen ihn Satan." Niemand lachte.

"Er ist längst eine Karikatur geworden, ein Witz, eine Koketterie, ein Faschingskostüm, ein Aberglaube, und es hatte lange Tradition in der Kirche und im Volksglauben, dass man ihn irgendwo außerhalb hinstellte, an die Seite der Feinde, als Herrn der Andersgläubigen oder Gottlosen, in den Blick und den Reiz der Frauen legte man ihn, in das Gebrechen und Schicksal behinderter Kinder, in die Krankheiten, in die Missernte, in die Armut, in das Leid, in die Sexualität, in Hautfarbe und Rasse. Hauptsache, er ist anderswo, er ist anderswo auszumachen und wenn man ihn bekämpft, müssen andere sterben. Hauptsache, ich muss nicht sterben! Man ist für Ideale und Ideologien sogar bereit, in den Krieg zu ziehen und sich schlachten zu lassen, wie absurd sie auch immer sein mögen. Hauptsache, man muss den Gegner nicht in sich selbst erkennen und diesen Kampf aufnehmen.
 Warum seid ihr hier? Ihr findet eine destruktive und verschworene Regierung heraus und versammelt euch vor ihrem Palast, um ihr das zu sagen? Oder damit euch möglichst viele Menschen sehen, möglichst viele Menschen hören und auch panisch, irre und misstrauisch werden? Deshalb seid ihr hier? Wem gilt, was ihr sagt? Wem gelten eure Banner, eure Plakate, eure Rufe, euer Geschrei, eure gereckten Fäuste? Wollt ihr der Regierung, die euch doch ohnehin täuscht, ein Gesuch anmelden? Soll sie euch helfen? Eine Regierung, die mit Wirtschaftsbossen, Milliardären und Verschwörern im Bunde ist, kann euch nicht helfen! Das muss euch doch einleuchten, wenn ihr einen Augenblick darüber nachsinnt und euch selbst fragt: Was tue ich hier eigentlich?
 Ich sage euch, wem es gilt und wofür es ist: es ist für die Medien. Ihr seid ein Gesellschaftsspiegel. Ihr seid eine Verfassung, eine Gemütslage in der Bevölkerung, ihr seid Statistik, ihr seid Daten für die nächsten Algorithmen.
 Ihr seid wie ein Kind, das in einer überfüllten Fußgängerzone die Eltern aus den Augen verloren hat! Es hält eine kurze Zeit aus, meint in lauter Rücken, Profilen, Kleidungsfarben und Stimmen jedesmal Mutter und Vater auszumachen, was aber immer wieder enttäuscht wird, spürt diesen Kloß im Halse wachsen, eine Paralyse, als würde jemand es bedrängen und die Hand an seine Kehle legen und dann - wenn es erkannt hat, dass es seinen Augen nicht trauen kann, seinen Ohren nicht trauen kann, seinem Gefühl in der Welt nicht trauen kann - dann beginnt es zu schluchzen und bitterlich zu weinen oder laut zu schreien. Es schreit, damit die Eltern es hören oder damit irgendjemand es hört, der es an der Hand nehmen und leiten wird. Und findet es sie wieder, dann sind die Arme der Mutter, die Hände des Vaters wie eine Heimat, vollkommen gleich, wie weit es von zuhause entfernt ist.
 Ihr schreit, weil ihr einen guten Menschen sucht! Weil ihr verloren und verlassen seid. Weil ihr eure Leitung aus den Augen verloren habt, weil ihr meint, euch selbst nicht trauen zu können und weil sich niemand zeigt, dem man trauen könnte, weil alles verdächtig ist.
 Das ist eine so grundlegende, eine so existenzielle Suche: Wo ist da ein guter Mensch? Wo ist da einer, der das Gute meint, der das Gute will, der das Gute tut? Wo ist da einer, der einem endlich die Wahrheit sagt, der einem die Augen öffnet? Auf dieser Suche ist man und wird bald fündig, denn da sind heute so viele, die wollen euch gerne bei der Hand nehmen und mit sich führen. Und ihr seid gehorsam und folgt. Und ihr bildet euch ein, ihr hättet sie nach Faktenlage ausgesucht, nach plausiblen Gründen, und erkennt nicht, wie verblendet ihr seid, wie eingenommen durch eure Gefühle, durch eure Angst, euren Überdruss, durch ihre Stimmen, ihr Aussehen, ihr Charisma, ihre Selbstinszenierung! Denn genauso, wie eure Angst dem unsichtbaren Feind eine Gestalt gibt, eine Stimme, einen Namen - damit ihr Gewissheit habt - genauso erschafft sie euch den Heiland. Der aber will das gleiche: euren Zorn, euren Hass, euren Hader, denn es ist ein und derselbe."
 Die Wolken zogen dahin und abwechselnd ergossen sich Sonnenschein und Schatten auf die Menschen.

"Es ist immer dasselbe, wisst ihr?! Immer ist es dasselbe, seit Menschengedenken. Ich frage euch: gibt es Reiche und Mächtige, die auf Kosten der Ärmeren und Schwächeren leben und deren Geschäfte und Pläne auf Kosten der Ärmeren und Schwächeren verwirklicht werden? - Ja. Ist das jetzt eine so große Erkenntnis, ein so großer Schock, eine solche Offenbarung? War es jemals anders? Glaubt ihr, ihr werdet dies umstürzen? Glaubt ihr, ihr würdet, säßet ihr auf diesen Plätzen, die sie haben, es einen Deut anders machen als sie?
 Seid wenigstens aufrichtig! In eurer Wut, eurer Empörung, eurem Aufbegehren, seid wenigstens aufrichtig. Denn ja, man kann wütend sein über alldas, man kann sich empören, man will aufbegehren; glaubt ihr, mir ginge es anders? Glaubt ihr, ich sei nicht wütend, ich sei nicht empört, ich wolle nicht aufbegehren? Glaubt ihr etwa, wegen meiner großen Worte, ich habe keine Sorge, keinen Schmerz, keinen Abgrund? Ach, wie tief ist mein Abgrund. Aber was helfen mir Einbildung und Selbsttäuschung? Was helfen euch Einbildung und Selbsttäuschung?
 Hört auf zu schreien. Werdet still und tretet gegen den Feind an: eure eigene destruktive und gefallene Natur, euer seelisches Gefälle! Eure ganze schmerzhafte Selbsterfahrung, dass ihr sterben werdet und der Tod vom ersten Tage an eurem Leben beigesellt ist, untrennbar, wie der Schatten eurer Gestalt im Sonnenlicht. Man muss sich selbst erkennen, damit man in sich selbst wirklich Heimat finden kann. Niemand, kein Herrscher, keine Regierung, kein Arbeitgeber wird euch einen Ort geben, der in euch selbst ja auch nicht vorhanden ist! Niemand wird euch ein Friedensreich bauen, niemand wird euch die Angst nehmen, niemand euch heilen! Wie denn auch? Die, von denen ihr es erwartet, die kranken doch selbst an der gleichen menschlichen Natur, dieses wundersame, faszinierende und dunkle Wesen zwischen Tier und Gott, dieses Geworfensein, diese Existenzangst, diese Selbstsucht.
 Diese Reiche, die ihr kritisiert, die ihr fordert, die sind doch wie alles in dieser Welt, sie werden und vergehen, sie richten sich auf und zerfallen, sie erblühen und verwelken, sie überfluten und verebben. Und jetzt, wo der Baum sein Laub abwirft, wo das Wetter umschlägt, werdet ihr irre und braucht irgendwas am Pranger oder auf dem Scheiterhaufen, was auch immer es sei, das Weltjudentum, die Freimaurer, die Jesuiten, die Bilderberger, die Pharmaindustrie, oder sonstwas.
 Irgendjemand muss eure Unvollkommenheit tragen. Irgendjemand muss der Bock sein, den ihr in die Wüste schickt und der eure Sünde trägt." Er machte eine Pause. Die Gesichter und Gemüter waren so verschieden, dass er kaum aus ihnen lesen konnte. Aber es war weitgehend still.

"Jemand hat es getragen. Wenn ihr es annehmen wollt, heute und von mir, jemand hat alldas getragen. Einer hat all den Zorn, all den Hader, all den Hass, all die Angst getragen, die in euch regiert! Einer hat all den Tod, der in unsern Knochen steckt, angenommen, hat ihn bezwungen, hat ihn überwunden. Er hat, ich sage es euch, er hat dem Satan in die Augen gesehen und hat sein Gesicht zerschlagen.
 Er hat uns, die wir ihm glauben, die Augen aufgetan und uns gelehrt, was unsere wahre Natur ist, dass Gott allein unser Herr sei und niemand sonst; nicht irgendwelche Menschen, nicht irgendwelche Herrschaften, nicht irgendwelche Systeme oder Ideologien. Er hat uns gelehrt, was wir wirklich brauchen und was wir getrost verwerfen können, weil es Irrwege sind. Er hat uns zu Söhnen und Töchtern Gottes gemacht, und hat das verlorene Kindlein in die Arme der Mutter zurückgeführt, in die Hände des Vaters zurückgegeben.
 Wissen wir das nicht alle, zumindest vom Hörensagen, dass ein Mensch, der tiefes Vertrauen in seiner Seele hat, in sich selbst ruht?! Und manche haben das niemals gelernt, niemals erfahren, sondern kennen es wirklich nur vom Hörensagen; wie bitter ist das?
 Habt ihr das erfahren? Hat es euch jemals jemand gesagt, euch gelehrt? Dass ihr alle aus dem einen ewigen Geist herstammt, der höher ist als alles, schöner als alles, erhaben über alles! Und er macht seine Kinder auch so, die bei ihm in die Schule gehen, diese Schule, die sich Leben nennt. Was für eine Mühe, was für eine Sorge und was für ein Werk ist es, einen Menschen großzuziehen? Wenn welche unter euch Kinder haben, dann verstehen sie das. Ein Menschenkind so frei zu lassen, dass es selbst lernen und werden darf, aber gleichsam solch eine Stärke, solch ein Vertrauen zu stiften, dass es aufrichtig und unbestechlich seinen Weg macht.
 Unbestechlich. Unbestechlich wird man dadurch, dass man weiß, was man nicht braucht. Dadurch, dass man weiß, dass jemand einem nichts geben kann, weil man alles hat, was man braucht.
 Ihr braucht das hier nicht! Ihr braucht diese verworrenen Gedanken, diesen Wahn, diese Panik nicht. Ihr braucht nicht mächtigen Verschwörern öffentlich abzusagen und euch falschen Propheten aus dem Internet hörig zu machen und dann wieder Sklaven zu sein. Was ihr braucht, was alle Menschen brauchen, ist den, der euch erschaffen hat, der euch gebildet, euch Leben eingehaucht hat und der alles, was ihr seid, euer ganzes Wesen, eines Tages wiedernehmen wird.
 Werft euch doch in diese Arme! Was sonst kann einen Menschen wirklich frei machen? Denn vertraut man sich diesem Geiste an, macht es erhaben über die Dinge dieser Welt, über Fleisch und Blut, über Sterben und Tod, über Mächte, Regierungen und Gewalten, über Lehren und Ideologien anderer, über Kummer und Ängste. Er schafft nämlich heilsamen Abstand, sowohl zu uns selbst als auch zu anderen Menschen. Verwechselt aber Erhabenheit nicht mit Gleichgültigkeit. Erhabenheit kommt aus Liebe und Versöhnung, Gleichgültigkeit kommt nicht aus Liebe und Versöhnung.
 Manch einer wird wohl sagen, das sei doch Unsinn, was ich spreche, denn was ich hier erzähle, sei ja auch eine Ideologie, ein mächtiges religiöses System, das Menschen jahrhundertelang unterjocht und gequält hat und es teilweise heute noch tut, nicht wahr?! Was aber gibt es in der Welt, das nicht schon von Menschen missbraucht wurde? Missbraucht von solchen, die ihr hier anprangert, die Reichen, Oberen und Mächtigen, und missbraucht von solchen, denen ihr hier folgt, den Irrlichtern, den Blendern und den unberufenen Propheten. Denn dies muss man auch unterscheiden lernen, dass jene, die mit einem kritisieren, was man selbst verabscheut, nicht automatisch Gleichgesinnte, nicht automatisch Wohlwollende, nicht automatisch Freunde sind! Sondern jemandes Unmut und Angst zu nehmen, um ihn zu Hass und Gewalt zu führen, ist nicht Wohlwollen, sondern Vergiftung." Er rieb sich die schweißnasse Stirn.

"Alle Rede aber und alle Predigt ist eigentlich dazu da, um im Menschen ein Begehren zu wecken, eine Sehnsucht zu entfachen nach Gott. Deshalb sagte ich euch zu Beginn, vielleicht könne ich euch verführen, vielleicht könne ich euch betören. Wenn ihr vielleicht seht und fühlt, dass ich nicht gegen euch bin, sondern für euch.
 Ihr seid frei! Heute, wenn ihr es annehmen wollt, seid ihr frei von diesem schlechten Geist, der euch begleiten wird, wo auch immer ihr hingeht, was auch immer ihr umstürzt, was auch immer ihr politisch unternehmt. Ihr braucht keine Demagogen, ihr braucht keine Führer, ihr braucht keine Massenpsychologie, keine Treiber, die euch bearbeiten, die euch behauen, schleifen und formen wie einen rauhen Stein.
 Leistet doch Widerstand mit der Stille, die in euch ist, mit der Ruhe in eurem Herzen, die Gott euch gibt. Denn im Herzen ist das Himmelreich, in diesem vergänglichen Gebilde verborgen, und wenn jener, der mich einst zum Leben erweckte, meine letzte Stätte wird und er mir neues Leben verspricht, was soll mich hier noch fesseln und versklaven? Lehrt es doch, dass dies hier nur zeitliche Dinge sind, die werden und vergehen, sich aufrichten und zerfallen, erblühen und verwelken, überfluten und verebben.
 Und eure Stille, eure Ruhe wird viel gefährlicher sein für den Feind, als dieses Getöse und diese Panik. Wenn seine Hetze, sein Zorn, sein Gift nicht wirkt, sondern in euch verweht wie Staub im Frühlingswind. Denn das will er nicht. Er will, dass ihr gehorsam seid, dass ihr schreit, dass ihr tobt, dass ihr revoltiert, dass ihr anzündet und zerstört. Er will, dass ihr Angst habt. Aber ihr braucht keine Angst zu haben. Ihr braucht keine Angst zu haben."

Er blickte umher. Manche waren ganz gedankenversunken, manche schauten ihn mit sehr ernster Miene an, manche filmten ihn, manche tuschelten und lachten untereinander, eine Frau weinte. Das Blumenmädchen betrachtete ihn ruhig und nickte ihm wieder leicht zu. Polizisten und Journalisten hatten sich in seine Nähe begeben.
 Er stieg von der Kiste, nahm sie auf und ging. Als er den Tiergarten erreichte, zündete er sich eine Zigarette an. Ach, diese weltlichen Dinge. Eben auch nur ein Mensch.




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